Philosophische Archäologie und Archäologie der Philosophie: Kant und Foucault
(nicht zitierfähige Vortragsfassung!)

von Ulrich Johannes Schneider

Inhalt

Kapitel I.
Kapitel II.
Kapitel III.
Kapitel IV.
Anmerkungen

I.

Immanuel Kant und Michel Foucault haben beide das Wort "Archäologie" benutzt, wenn sie auf die Geschichte des Denkens und der Philosophie zu sprechen kamen. Kant benutzt den Ausdruck "philosophische Archäologie" nur einmal in seinen Notizen zur Beantwortung einer Preisfrage der Berliner Akademie über die Fortschritte der Metaphysik. Veröffentlicht wurden diese Notizen erst sehr viel später im Rahmen der Gesamtausgabe, dort im Band 20, der 1942 erschien.1 Der kurze Hinweis Kants, man könne eine philosophische Archäologie entwickeln, hat den jungen Foucault beeindruckt, der mit einer Übersetzung von und Einleitung zu Kants Anthropologie sein Studium abschloss.2 Foucault hat in seinen Büchern der 1960er Jahre das Wort Archäologie zu einem methodischen Konzept ausgebaut und diese Überlegungen in seinem Buch Archäologie des Wissens 1969 abgeschlossen. Foucaults Archäologie ist nicht aus Kant abgeleitet, aber sie reagiert auf eine Kantische Fragestellung: Wie lässt sich die Geschichte der Philosophie philosophisch begreifen?

Mit dem ganzen Gewicht seiner systematisch entwickelten Transzendentalphilosophie hat Kant diese Frage zum ersten Male in hinreichender Schärfe gestellt. Auf den letzten Seiten seiner Kritik der reinen Vernunft von 1781 hatte er sich bereits nach der Möglichkeit einer "Geschichte der Vernunft" gefragt und es ist dieselbe verschärfte Frage, die ihn in seinen Notizen auf das Stichwort der Archäologie führt. Foucault ist hier nicht weit von Kant entfernt. Im 20. Jahrhundert gibt es neben Martin Heidegger nur einen Denker, der nach der "Geschichte der Vernunft" mit nicht nachlassender Intensität fragt und eine ganze Reihe von Versuchen ihrer Beantwortung unternimmt, und das ist eben Foucault. Der Unterschied zu Kant ist gleichwohl groß. Es ist ein veränderter Philosophiebegriff, auf den sich die Archäologie bei Foucault bezieht. Zwischen Kant und Foucault liegt ein langer Zeitraum der Entfaltung europäischen Philosophierens; zwischen der Kantischen und der Foucaultschen Frage nach der "Geschichte der Vernunft" liegen eine Fülle von Theorien, Positionen und Systemen, welche die Geschichte der Vernunft reflektieren, exponieren und problematisieren. Die "Geschichte der Vernunft" hat ihre Anwälte gefunden, ihre Erzähler und Prediger, sie wird längst nicht mehr nur im Modus der Frage, sondern erfolgreich auch im Modus des Wissens behandelt.

 

II.

Es gibt eine hermeneutische Grundregel, die besagt, man solle das Verständnis einer These suchen, indem man sie als Antwort auf eine Frage versteht, eine Frage, die man rekonstruieren muss. In unserem Falle kann man diese Regel herumdrehen und sagen, es gelte die Antworten zu verstehen, die in Bezug auf die "Geschichte der Vernunft" von Kant und Foucault nicht akzeptiert wurden. Um zu wissen, was die philosophische Archäologie an Fragen aufwirft, muss man zunächst verstehen, mit welchen Antworten sie sich nicht zufrieden gibt.3 Begeben wir uns zunächst nach Berlin und treten wir aus der Straße Unter den Linden in die Friedrich Wilhelms-Universität ein, suchen wir den Hörsaal VI und hören wir Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu, wie er seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie einleitet. Es ist der 24. Oktober 1820:

 

"Meine Herren! Diese Vorlesungen haben die Geschichte der Philosophie zu ihrem Gegenstande. Was diese Geschichte uns darstellt, ist die Reihe der edeln Geister, die Galerie der Heroen der denkenden Vernunft, welche kraft dieser Vernunft in das Wesen der Dinge, der Natur und des Geistes, in das Wesen Gottes eingedrungen sind und uns den höchsten Schatz, den Schatz der Vernunfterkenntnis, erarbeitet haben. Was wir geschichtlich sind, der Besitz, der uns, der jetzigen Welt angehört, ist nicht unmittelbar entstanden und nur aus dem Boden der Gegenwart gewachsen, sondern dieser Besitz ist die Erbschaft und das Resultat der Arbeit, und zwar der Arbeit aller vorhergegangenen Generationen des Menschengeschlechts."4

Hegel wird diese Vorlesung fast jedes Wintersemester halten, bis zu seinem Tode 1831. Schon 1833 erscheint in der "Ausgabe der Freunde des Verewigten" der erste Band der philosophiehistorischen Vorlesungen Hegels, der erste von drei Bänden, in denen aus Manuskripten und Nachschriften der Schüler ein wirkungsmächtiges Werk entsteht, dessen Einleitung in allen überlieferten Versionen ein Manifest des idealistischen Denkens darstellt. Die wichtigsten Thesen sind durchaus bekannt: Philosophie ist "System in der Entwicklung", ihre historische Artikulation ist zugleich eine logische, die Prinzipien des Denkens werden mit Notwendigkeit aufgestellt, wobei diese Notwendigkeit eine insgesamt weltgeschichtliche ist, da jeder Philosoph den Geist seiner Zeit ausspricht und zugleich das Denken selbst weiter entwickelt. Hegel nennt es die Arbeit des Geistes, die – historisch gesehen – die Philosophie in verschiedene Systeme ausdifferenziert und zugleich – philosophisch-logisch gesehen – diese Ausdifferenzierung einholt, versteht und anerkennt. Hegel nennt es die "Rechtfertigung", welche der Historiker der Philosophie zu leisten habe, und er geißelt alle Autoren erzählender Philosophiegeschichten, die sich mit der Darstellung bloßer Meinungen begnügen.

Hegel ist durchaus nicht festgelegt, was den Wortlaut seiner Einleitungsbemerkungen betrifft, wie wir inzwischen aus neu publizierten Nachschriften wissen. So kann die Benennung des aktiven Elements in der Geschichte variieren: das Denken, die Philosophie, die Vernunft, der Geist. Immer aber ist die Figur der Rückwendung zentrales Moment der philosophiehistorischen Aufgabe: im Verstehen der Geschichte der Philosophie entwickelt sich die Philosophie. So ist Hegels Ausgangspunkt dezidiert präsentistisch und in keiner Weise antiquarisch. "Nichts ist verloren, alles ist erhalten" – diese These macht die Auseinandersetzung mit vergangenen Philosophien zu einer aktuellen Erkenntnis, und selbst das harsche Urteil, das ironische Referat und die schwäbisch dahingeraunzte sarkastische Bemerkung über die Unvollkommenheit mancher Position – Hegel war am Katheder nicht unbedingt eloquent – haben seine Zuhörer nachhaltig begeistert. Auch sie konnten sich als "Funktionäre des Weltgeistes" fühlen, was dem alten Edmund Husserl, von dem dieser Ausdruck stammt, als eine genuin philosophische Utopie erschien. Mit Hegel wurde die Philosophiegeschichte ein denkerisches, und das heißt für Philosophen: ein ganz und gar selbstbezügliches Geschäft.

Wechseln wir die Szene. Begeben wir uns nach London in die Taverne Crown & Anchor, wo Samuel Taylor Coleridge Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie angekündigt und im Winter 1818/19 gehalten hat. In England war die Geschichte der Philosophie kein Gegenstand universitären Unterrichts und kaum ein Gegenstand von gelehrten Abhandlungen. Coleridge hatte in Deutschland studiert und versprach sich wohl ein interessiertes und vor allem zahlendes Publikum, denn er wollte seine Einkünfte aufbessern. Parallel hielt er am selben Veranstaltungsort eine Vorlesung über Shakespeare, die dann doch das größere Publikum anzog. Wir betreten das Crown & Anchor am 28. Dezember 1818 und hören Coleridge den Gegensatz zwischen spekulativem Denken und rational-empirischer Forschung am Unterschied zwischen dem alt-jüdischen und dem griechischen Denken erläutern. Vernunft und Verstand, Geistphilosophie und Verstandesdenken – das sind Oppositionen, die Coleridge noch mehrfach explizieren wird. Hier sagt er in Bezug auf seine Diagnose, dass es zwei Quellen des philosophischen Denkens in der Geschichte gegeben habe:

 

"Unweigerlich wird man denken, sofern man die geistige Einstellung teilt, dass eine Vorsehung jenes große Weltendrama bis zum Abschluss lenkt, dass in allem Auftreten von Oppositionen eine gewisse Einheit zu erwarten steht, weil doch Gegensätze in konstanter Bewegung hin auf eine Einheit zu sein scheinen, wie nur die entgegengesetzten und nicht die gleichartigen Pole eines Magnetes sich anziehen. So erscheinen Oppositionen als unvollständige Hälften, die nach einer Reihe von Jahren, nach Reife und Vervollkommnung, sich zuletzt so zusammenfügen, dass sie beide ihr Bestes bewahren."5

Für Coleridge ist die gesamte Philosophiegeschichte ein Hin und Her zwischen unvollkommenen Hälften, zwischen den geistigen Kindern des Aristoteles und den geistigen Kindern Platons, wie er sich einmal ausdrückt.6 Der Gegensatz ist ein bewegendes Prinzip der Philosophiegeschichte, die bei Coleridge zum Auftrittsort "großer Männer" wird, zu einem permanenten Theater mit individueller Rollengestaltung. Coleridge dramatisiert, um sein Publikum zu unterhalten und zugleich in eine Position des distanzierten Urteils zu rücken. Das Verstehen ist hier über weite Strecken ein Bewundern, etwa wenn es heißt: "das Verdienst eines großen Mannes [...] ist es, eine Idee zum Leben erweckt, einen Geist hervorgerufen, einen Weg eröffnet und einen ersten Anstoß dazu gegeben zu haben."7 Nietzsche nannte es die monumentale Form der Geschichtsschreibung, die hier praktiziert wird, die man vielleicht überhaupt als mächtiges Motiv der philosophiehistorischen Arbeit ausmachen kann: Heldenverehrung im Bereich des Geistigen führt die Geschichte als barockes Fest immer neuer Einfälle und Entdeckungen auf.

Wechseln wir noch einmal die Szene. Begeben wir uns nach Paris, dort in die Sorbonne und mischen wir uns unter das zahlreiche Publikum, welches der berühmte Victor Cousin anzieht, obgleich – oder wohl gerade weil – er über die Geschichte der Philosophie spricht. Am 29. Mai 1828 gibt er seine sechste Vorlesungsstunde; Stenographen im Publikum sorgen dafür, dass seine Rede schon wenige Tage darauf gedruckt vorliegt und etwa auch nach Berlin verschickt wird, wo Hegel regelmäßig davon Kenntnis nimmt. Cousin insistiert auf der Identität von Philosophie und Geschichte, wobei er unter Philosophie in der Hauptsache Psychologie versteht, eine Lehre vom menschlichen Erkenntnisvermögen:

 

"Es geht, meine Herren, um die Identität des Menschengeschlechts. Selbst in ihren instinktiven und spontanen Formen ist die Vernunft in allen Epochen der Menschheit und in allen Individuen, die diese ausfüllen, sich selbst gleich. [...] Woher aber kommen die Unterschiede? Aus einer einzigen Ursache. Die Vernunft entwickelt sich auf zwei Weisen, entweder spontan oder reflexiv. [...] Nun können Sie das, was ich Ihnen auf dem begrenzten Schauplatz des individuellen Bewusstseins gezeigt habe, auf das universelle schlechthin übertragen, auf das Theater der Geschichte. Die Einheit des Menschengeschlechts ist dort ebenfalls, mitsamt seinen Differenzen, von derselben Natur."8

Ausgehend vom Erkenntnisvermögen sieht Cousin zwei Richtungen als bestimmende Gegensätze an: Sensualismus und Idealismus. Er schildert die Irrwege der einseitigen Ausprägung beider Denkarten und setzt seine eigene Philosophie als versöhnende Synthese dagegen: Eklektizismus. Cousin ist dann ganz bei der Sache, wenn er den Geist des 19. Jahrhunderts als eine Aufnahme und zugleich Verabschiedung früherer philosophischer Ansätze preist und dafür einerseits historische Bildung fordert, andererseits aber den offenen Horizont künftigen Denkens in leuchtenden Farben malt. Cousin war der einflussreichste französische Philosoph der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, er hat es 1840 auch zum Unterrichtsminister gebracht. Seine Vision der Philosophiegeschichte war vielleicht weniger durchgearbeitet als diejenige Hegels, aber sie repräsentiert einen weiteren, bis heute wirksamen Modus der philosophischen Historiographie: das Stationendrama aufeinander folgender Extreme.

Das rhetorische Element ist bei allen drei Autoren stark ausgebildet, nicht nur, weil es sich um Vorlesungen handelt. Was sich Hegel, Coleridge und Cousin vornahmen, war nichts weniger als eine Erzählung der abendländischen Vernunft. Hegel hat sie als einen Prozess der geistigen Arbeit dargestellt. Coleridge sah ein Drama: verschiedene Temperamente gehen aufeinander los. Bei Cousin war es weniger Arbeit oder Tat als ein Geschehen, das er mit der nüchternen Haltung eines Bewusstseinsanalytikers beobachtete und als Entfaltung verschiedener Erkenntnisprinzipien ohne Erstaunen immer schon begriffen hatte. Um diese Unterschiede noch schärfer zu akzentuieren, könnte man von einem hermeneutischen, einem historischen und einem kritischen Verständnis der Philosophiegeschichte sprechen und hätte damit Positionen bezeichnet, die in abgewandelter Form auch gegenwärtig noch wirksam sind, wenn man sich die Geschichte der Philosophie als große Erzählung vor Augen führt.

Die drei Vorlesungen stellen drei verschiedene Wege dar, den Rückblick philosophisch zu rechtfertigen und zugleich der historiographischen Analyse einen Sinn zu verleihen. Wir befinden uns hier bereits jenseits der gelehrten Kenntnis vergangener Philosophie, jenseits der gedruckten Philosophiegeschichten, jenseits der Darstellungsarbeit der Historiker. Wir haben etwa Wilhelm Gottlieb Tennemanns Geschichte der Philosophie – erschienen in elf Bänden von 1798 bis 1819 – beiseite gelegt und stellen uns der Frage: Gibt es einen Begriff der Philosophie, der mit der Erkenntnis ihrer Geschichte zusammenfällt? Hegel, Coleridge und Cousin haben in eingehender Auseinandersetzung mit dem historischen Wissen – sie haben alle Tennemann benutzt – diese Frage zu beantworten versucht: so haben wir Geschichten der Entwicklung, der Aufklärung und des Fortschritts erhalten. Muss die Philosophiegeschichte so aussehen? Beugen sich die Quellen solchen Interpretationen? Kant und Foucault waren – aus unterschiedlichen Gründen – nicht dieser Meinung.

 

III.

Dass Kants Problem mit der Geschichte der Philosophie kein beliebiges Problem ist, darüber belehrt uns der letzte Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft: Hier heißt es unter der Überschrift "Die Geschichte der reinen Vernunft", dass dieser Titel hier nur stehe, "um eine Stelle zu bezeichnen, die im System übrig bleibt und künftig ausgefüllt werden muss" (B 880). Kant verbindet ein "muss" mit der näheren Ausführung dessen, was Geschichte der Philosophie – oder hier genauer: Geschichte der reinen Vernunft – heißen soll und scheint der Ausführung derselben nur aus pragmatischen Gründen nicht vorgreifen zu wollen. Tatsächlich aber bietet er keinen Vorgriff an, der funktionieren könnte. Kant definiert sein System zu Ende, aber die Geschichte findet darin keinen Platz. Er spricht davon, architektonisch verfahren zu wollen, und nicht rhapsodisch. Architektonik nennt er "die Kunst der Systeme" (B 860), sie ist "die Lehre des Scientifischen in unserer Erkenntnis überhaupt" und also kein Stückwerk, kein Fragment und kein bloß Dahererzähltes wie eine Rhapsodie. Architektonik ist auch nicht Konstruktion im Sinne einer logischen Ansicht der Elemente, sondern Einsicht in einen strukturellen Zusammenhalt des Ganzen – sei es nun Philosophie, Metaphysik oder Transzendentalphilosophie –, der ein Interesse der Vernunft befriedigt. Am Ende seines ersten großen theoretischen Hauptwerkes formuliert Kant Thesen am Rande der Denkbarkeit, so wenn er davon spricht, dass man Philosophieren lernen könne (B 865), oder dass subjektive Erkenntnis nicht nur rational, sondern auch historisch sein kann (B 864). Das ist noch keine Bildungstheorie wie bei Humboldt, Schleiermacher oder Hegel, sondern nur ein schwacher Versuch, Philosophie von Logik und Mathematik zu unterscheiden. Philosophie, so könnte man etwas frei formulieren, besteht nicht in der ungehinderten Entfaltung reiner Vernunft, sondern in der Anwendung derselben auf wissenschaftliches Wissen, sie ist – das ist nun wieder ein Ausdruck Kants – im Amt des Zensors tätig (B 879).

Wo Kant nicht urteilen kann, greift er zu Metaphern. Rhapsodisch heißt einmal das Narrative und wird verurteilt, zum andern wird es als historische Kenntnis gewürdigt. Das architektonische Modell des Systematischen wird nicht konsequent durchformuliert; immer wieder kommt die Metapher vom Weg ins Spiel. Kant hat diese Metapher geliebt und sie oft eingesetzt, um sein eigenes Denken zu charakterisieren. So spricht er vom "kritischen Weg, der allein noch offen" sei (B 884), wie die Transzendentalphilosophie überhaupt die Philosophie auf den Weg zur Wissenschaft und diese auf den Weg zur Weisheit führe. Aber der Philosoph am Ende des 18. Jahrhunderts bahnt nicht nur selber Wege im Denken, er findet sie auch schon beschritten. Kant sieht in einer Reihe von Formulierungen die Vernunft selbst sich Wege nehmen, Wege einschlagen und begehen. So bleibt auch das Schlusskapitel in der deutlichen Unentschiedenheit dieses Schwankens verhaftet, weil nicht klar wird, ob die "Geschichte der reinen Vernunft" konstruierte Historie oder nachverfolgtes Geschehen ist.

Es ist hier nicht die Frage, wie Kant diese Ambiguität geschichtsphilosophisch löst, durch die Annahme von versteckt wirksamen Ideen, von unsichtbaren Händen und geheimen Triebfedern etc. Dass wir nur konstruieren, weil es so etwas wie Vernunft gibt, die uns konstruieren lässt, war für Kant zentral. Zweckmäßigkeit ist ein durchgängiges Postulat seiner Philosophie. Teleologisch löst Kant einige Probleme auch seiner Religionsphilosophie, die Naturabsicht bildet sogar eine Grundannahme seiner Ontologie, denn sie sichert die Adäquatheit von Erkenntnis und Ding an sich. Jenseits dieser Lösungsansätze gibt es bei Kant aber eine tiefer liegende Irritation, ausgedrückt im Eingeständnis, dass Philosophie "nirgend in concreto gegeben ist, welcher man sich aber auf mancherlei Wegen zu nähern sucht" (B 866). Kant wird nicht zum Erzähler, wohl aber zum Beschreiber einer Landschaft, in welcher Philosophie zu sehen ist. Genauer müsste man sagen, dass in seinem Bild der Weg zur Philosophie zu sehen ist, und zwar auf zweierlei Weise. Einmal erkennt Kant einen "durch Sinnlichkeit verwachsenen Fußsteig" (B 866), zum anderen einen "Weg der Wissenschaft, den einzigen, der, wenn er einmal gebahnt ist, niemals verwächst und keine Verirrungen verstattet" (B 878). An diesem Ausdruck ist weniger wichtig zu bemerken, dass die üblicherweise verwachsenen Wege zur Wissenschaft erst durch kritische Philosophie so gebahnt werden, dass sie nicht mehr neuerlich verwachsen, sondern vielmehr, dass die Rede vom Weg die Philosophie als denkerische Aktivität distanziert, sie anschaulich macht wie in einem Landschaftsbild.

Kants Fragestellung ragt über Ansätze seiner Zeit insofern weit hinaus, als er die Überzeugung von der Wirksamkeit der Vernunft mit einer Anerkennung von so etwas wie einem Geschehen der Vernunft verbindet.9 Er ist damit weit entfernt von den aktivistischen Metaphern aus den Philosophiegeschichten eines Christoph Meiners oder Johann Christoph Adelung, wo entweder die Vernunft als Aufklärung selber handelt und sich die Köpfe der Philosophen quasi wie Hände leiht, wenn nicht gar diese Helden der Aufklärung selber den Triumph der Philosophie verbürgen. Kant kennt und charakterisiert zwar den Konflikt zwischen Aufklärung und Aberglauben, zwischen Einsicht aus Gründen und selbstverschuldeter Unmündigkeit. Eben diese dramatische Redeweise aber wendet er in Bezug auf die Geschichte der Philosophie nicht an. Kant hat sich gewissermaßen gegen die Suggestion der Narrativität gewehrt und dort keine Entwicklung unterstellen wollen, wo er lediglich Wege zur Philosophie ausmacht. Er hat sich zwar nicht mit Urteilen über einzelne Philosophen zurückgehalten, wohl aber mit Qualifikationen der Philosophiegeschichte im ganzen. In dieser Rückzugsposition steht er relativ alleine da und unterscheidet sich von den popularphilosophischen Aufklärungsenthusiasten ebenso wie von den idealistischen Entwicklungsideologen. Für Kant war die Geschichte der Philosophie eine so große Frage, dass er sie lieber nicht beantworten wollte. Was er dazu niederschrieb, etwa in Auseinandersetzung mit der 1791 zuerst veröffentlichen Preisfrage der Berliner Akademie über die Fortschritte, welche die Philosophie seit den Zeiten von Leibniz und Wolff gemacht habe, exponiert immer wieder nur ein Problem, bietet keine Lösung, und schon gar keine historisch-narrative.

Die zentrale Stelle zur Theorie einer Geschichte der Philosophie findet sich bei Kant auf einem losen Blatt, worauf er sich Notizen zur Beantwortung der Berliner Preisfrage machte. Die gequälte Großartigkeit dieses Absatzes machte es nötig, ihn ganz zu zitieren:

 

"Eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selber nicht historisch oder empirisch, sondern rational, d. i. apriori möglich. Denn ob sie gleich Facta der Vernunft aufstellt so entlehnt sie solche nicht von der Geschichtserzählung sondern sie zieht sie aus der Natur der menschlichen Vernunft als philosophische Archäologie. Was hat die Denker unter den Menschen vermocht über den Ursprung das Ziel und das Ende der Dinge in der Welt zu vernünfteln. War es das Zweckmäßige in der Welt oder nur die Kette der Ursachen und Wirkungen oder war es der Zweck der Menschheit selbst wovon sie anfingen?"10

Keine Geschichtserzählung also, sondern philosophische Archäologie. Diese Archäologie zieht die Geschichte der Philosophie aus der Natur der menschlichen Vernunft – wie soll man das verstehen? Wird hier etwas heraufgezogen wie ein Eimer aus einem tiefen Brunnen? Oder wird hier etwas ausgezogen wie ein Satz aus einem größeren Werk? Man bedenke, dass es nicht die Vernunft ist, woraus die Archäologie hier etwas zieht, sondern die Natur der Vernunft, und zwar der menschlichen Vernunft. Das alles könnte man mit der Bemerkung belegen, es sei hoffnungslos unklar, was Kant hier meine, und in diese Richtung gehen auch viele Kommentare, die diese Stelle kurzerhand zum Vorläufer dessen erklären, was später bei Schelling oder Hegel "System in der Entwicklung" heißt. Kant gruppiert die wichtigen Fragen: Ist die Vernunft selbst erforschbar? Kann man dazu eine neue Wissenschaft sich denken, wie etwa die Archäologie? Was setzt Menschen in die Lage, philosophisch zu denken? Muss man das Philosophieren eher aus der Welt oder im Rückgang auf die Menschheit erklären? Die Vernunft ist bei Kant bekanntlich "das Vermögen der Prinzipien" (B xxx). Aber dieses Vermögen hat eine Natur-Seite, nach der es auch beschrieben werden kann. Es scheint in diesem Sinne für Kant nicht nur etwas objektiv Historisches in allem Rationalen zu geben, sondern dieses Rationale kann methodisch sich selbst zu einer Geschichte machen, die allerdings nicht Erzählung ist. Archäologie hieße dann – hier sind wir bereits in der Interpretation der Kantischen Stelle – so etwas wie Lokalisierung und zugleich Abstrahierung des Denkens von der chronologischen Achse. Die ausziehend operierende Archäologie der menschlichen Vernunft wäre eine Art Topographie des Vernünftigen, eine Verortung von Anstrengungen im Namen der Wissenschaft, oder – in der Kombination zweier Kantischer Metaphern – eine Architektonik der Ruinen. Denn das sagt Kant im letzten Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft, dass "ein flüchtiger Blick auf das Ganze" (der Ansätze zu einer Geschichte der Vernunft) "zwar Gebäude, aber nur in Ruinen vorstellt" (B 880).

Kant denkt Ruinen: das ist die Einsicht, welche Archäologie vermittelt. Er ist nicht jemand, der das Ganze anzielt und das Fragment vorfindet oder akzeptiert, der logisch baut und empirisch enttäuscht wird. Kant operiert doppelbödig. Höchstens an seiner eigenen Transzendentalphilosophie mag er es bedauern, dass System und Geschichte nicht in Einklang gebracht werden können. Mit Blick auf andere, eher historische Gestalten aber gibt es bei ihm die Formulierung einer vollendeten Einsicht in das Unvollendete. Bei Kant scheitert nicht nur die Vernunft an sich selbst – das ist ihre Antinomie – auch die Philosophen scheitern, wie Newton, wie Wolff und andere, die Erfahrung und Gesetz nur unvollkommen zusammen dachten. Auch die Hermeneutik Kants zeugt von seiner Einsicht in das kontinuierliche Scheitern. Was anders soll der berühmte Satz bedeuten, von dem ein früher Beleg sich bei Kant findet, dass nämlich ein Autor durch seine Nachkommen besser verstanden werden könne als er sich selber verstehe? In dieser winzigen Spalte des Selbstmissverständnisses nistet für Kant die Kraft der Geschichte, ist sie eher Zeichen als Gedanke, muss viel mehr beobachtet als begriffen werden.

In der unversöhnten Distanz zu sich selbst drückt sich ein Unvermögen aus, eine Grenze der Vernunft, welche diese nur konstatieren kann. Sicher ist es die menschliche Vernunft, deren Natur es nicht sein kann, sich selbst durchsichtig zu werden. Die philosophische Archäologie scheint eben dies als Aufgabe zu haben, Vernunfttatsachen wie Tatsachenwahrheiten zu behandeln. Anders gesagt, wenn die Architektonik der Vernunft deren Produktionsweise resümiert, also quasi von innen her konstruiert, was vernünftig ist, so ist die philosophische Archäologie der Versuch, Vernunft gewissermaßen von außen zu betrachten. Archäologie ist die Einsicht in die Anfänge – Schleiermacher wird wenig später sagen: von den Keimen – und sie ist in diesem Sinne seit dem Buch von Thomas Burnet über "Philosophische Archäologien" (archaeologiae philosophicae) von 1692 noch in Kants Zeit geläufig.11 Archäologie ist die Lehre vom Auftauchen der Vernunft, nicht von ihrer Selbstbehauptung. Eben deswegen konnte Kant sie nie durchführen, sondern nur als ferne Wissenschaft einer späten, systemlosen Zeit antizipieren. Mit auch sonst nicht unbekannter terminologischer Genialität hat Kant mit dem Ausdruck "philosophische Archäologie" einen Begriff gewählt, der die letzte Aufgabe einer Kritik der reinen Vernunft, nämlich deren Geschichte zu Wege zu bringen, mit der allerersten Aufgabe eines Geschichtsschreibers der Philosophie verbindet, nämlich das Auftauchen von rationalem Denken, Philosophie, Vernunft, Geist, zu charakterisieren. Kant sagt ja in der zitierten Stelle, dass die philosophische Archäologie nichts aus der Geschichtserzählung entlehnen würde: d. h. in einem präzisen Sinne, dass sie keine Entwicklung aufzeigt, sondern den Anfang von Entwicklung angibt, die Regel eher als das Geregelte, den Einsatz eher als die Durchführung, das Faktum des Denkens eher als das Denken selbst.

 

IV.

Diese letzten Bemerkungen waren schon im Blick auf Michel Foucault formuliert, wie Sie wahrscheinlich bemerkt haben. Es ist in der Tat erstaunlich, wie leicht der Übergang von der Kantischen Problemstelle zur Foucaultschen Methodologie fällt, wenn man nur die Alternativen mitbedenkt. So ist auch bei Foucault die Ablehnung der Geschichtserzählung mit ihren Kategorien von Autor und Werk, mit ihrer permanenten Unterstellung von Kontinuität ein wichtiges Moment, die Archäologie überhaupt als eigenständiges Verfahren zu charakterisieren: als eine Unternehmung zunächst, die den Illusionen der Entwicklungsgeschichte nicht folgt, den Tröstungen der Teleologie gelangweilt den Rücken kehrt und von den Abenteuern vernunftheroischer Tätlinge nichts wissen will. Wie bei Kant, so arbeitet sich auch bei Foucault die Archäologie von der "Vernunft" zu der "Natur der Vernunft" vor, wie bei Kant will sie nicht die Vernünftigkeit der Fakten, sondern das Faktum der Vernünftigkeit beschreiben. Wenn man sich vergegenwärtigt, was Kant alles nicht sagte, als er angab, die philosophische Archäologie ziehe aus der Natur der menschlichen Vernunft ihren eigentlichen Gegenstand, so ist man für die Foucaultsche Austerität in methodischen Dingen gewappnet. Kant spricht weder vom Erklären noch vom Verstehen, weder vom Bestimmen, noch vom Reflektieren, weder vom Vorstellen, noch vom Darstellen etc. Wo er nicht selbst geschichtsphilosophisch argumentiert, erfindet Kant lieber ein neues Verbum in Bezug auf die Vernunft und sagt eben, dass man aus ihrer Natur etwas "herausziehen" könne: eine zweifellos innovative Operation, die keinerlei Gefahr läuft, mit der Geistes- oder Philosophiegeschichtsschreibung verwechselt zu werden.

Wie eingangs gesagt, ist der Begriff der Philosophie bei Kant und bei Foucault nicht der gleiche, die Aufgabenstellung für eine Archäologie entsprechend unterschieden. Überhaupt muss man nicht auf Kant zurückgehen, um Foucaults Archäologie zu erläutern – bisher kam man ganz gut ohne diese Beziehung aus. Und auch wenn Foucault 1971 in einer Replik auf eine Rezension von George Steiner seinen eigenen Gebrauch des Ausdrucks "Archäologie" mit dem Hinweis auf Kants späte Notiz begründet, muss man diese Allusion sicher nicht überbewerten. Auch wenn es andererseits auffällig ist, dass Foucault seine ersten ernsthaften philosophischen Übungen mit Kant unternahm – in einer Einleitung zu dessen Anthropologie, die bis heute ungedruckt ist. Nicht weniger auffällig ist Foucaults Zurückgehen auf Kant im Jahr seines Todes 1984 und auch hier ist es der Kant des geschichtsphilosophischen Zweifels, der Kant einer Selbstverpflichtung der Philosophie auf Aktualität in vollem Bewusstsein der Tatsache, dass Philosophie allein Aktualität nicht garantieren könne. Foucaults Kant ist der anthropologische Kant, der Geschichtsskeptiker, der Vernunftbegrenzer, der Kant der Fragen und nicht der Lösungen. Hier liegt die tiefere Berechtigung für eine Parallelisierung beider Denker im Lichte gemeinsam benutzter Begriffe, insofern diese ein paralleles Unterfangen charakterisieren, Vernunft nicht in der Pracht ihrer Ausübung, sondern in der Anstrengung ihrer bloßen Übung zu thematisieren.

Das Hauptanliegen der Foucaultschen Archäologie besteht darin, zum "kulturell Unbewussten" vorzudringen, indem die Transformationsregeln unseres Wissens offengelegt werden. Das von Foucault mehrfach angeführte Unbewusste, manchmal charakterisiert in Anlehnung an die Psychoanalyse, manchmal an den Strukturalismus, immer in strenger Distanzierung zu hermeneutischen Hoffnungen einer Einholung desselben in das Bewusste, leiten seine Auflösungen von Wissenschaft in das Wissen, seine zersetzende Analyse von Diskursformationen bis hin zu elementaren Aussagen, seine Reduktion von Sag- und Denkbarkeiten auf das bloße Ereignis ihres Auftauchens. Bis heute besteht ein Streit unter Foucault-Interpreten, ob seine Archäologie des Wissens, 1969 erschienen, eher ein programmatisches oder ein reflektierendes Werk sei, ob man daraus Anregung für weitere Forschung ziehen kann oder darin nur das Eingeständnis einer zu Ende gedachten Untersuchungsmethode sehen muss. Wahr ist jedenfalls, dass Foucault nach 1969 das Wort Archäologie nur noch in Diskussionen mit Wissenschaftshistorikern in den Mund nahm und alsbald durch den Ausdruck der Genealogie ersetzte.

Betrachtet man Foucaults Archäologie als Methode, so kann man aus seinen Büchern eine Werkzeugkiste machen, wie er dies selber einmal wünschte, und damit Gegenstände anderer Art und Herkunft, als er selbst sie thematisierte, behandeln. Man operiert dann fröhlich instrumental, ohne große Rücksicht auf die "Ontologie der Objekte", welche er selbst archäologisch als Erfahrungsgegebenheiten geltend machen wollte. Denn der nicht-methodische, der reflektierende Charakter seiner Archäologie des Wissens liegt in der nachträglichen Verunsicherung historiographisch erfolgreicher Operationen. Was die Bücher der 60er Jahre (Wahnsinn und Gesellschaft 1961, Geburt der Klinik 1963 und Die Ordnung der Dinge 1966) als Vernunftprozeduren thematisierten – theoretische Undenkbarkeit und praktische Bestimmtheit einer "Unvernunft", Definition eines klinischen Wissens, das individuell und zugleich allgemein ist, sowie zuletzt das Denken der Endlichkeit in einer zwischen Wissenschaft und Philosophie nicht mehr regelbaren Spannung –, das wird hier nur noch als Beispiel gehandelt, als einzelne konkrete Instanzen einer gedanklichen Selbstentfremdung, die sich im Wissen entsubjektiviert. Foucault wollte, wie er in einem der in die Archäologie des Wissens aufgenommenen Selbstgespräche sagt, nicht derselbe bleiben, er wollte durch die Archäologie nicht sein eigenes Verhältnis zu dem, was es gibt – Ideen, Begriffe und Dinge, vielleicht auch nur: Erfahrungen – stabilisieren.

Man sollte erwähnen, dass Foucault ein methodisches Verständnis von Archäologie nur so lange pflegte, so lange er in Büchern eine breit angelegte Transformationsforschung von Denkordnungen betrieb. Als er auch über seine Lehrveranstaltungen am Collège de France Wirkung entfaltete, unterdrückte er fast systematisch methodische Schlagworte, -ismen und -logien aller Art. Er hat sich besser als Derrida gegenüber Nachbetern geschützt, die aus Arbeitsmaximen kleine Wissenschaften zimmern, um zur Anwendung zu schreiten. Folgt man den rezipierten Auslegungen, was soll Archäologie bei Foucault denn genau gewesen sein? Drei Bücher, drei Themenstellungen. Ist Archäologie die Thematisierung des Individuums und seines Lebens durch den Tod und dessen Operationalisierung im "klinischen Wissen", wie in Geburt der Klinik? Oder ist sie die Abgrenzung verschiedener Epochen des Denkens durch Aufweis unterschiedlicher "epistemen" wie in Ordnung der Dinge? Oder die radikale Bestreitung von Sinnkonstitution außerhalb einer nicht-hermeneutischen und anti-dialektischen Diskursanalyse wie in Archäologie des Wissens? Ich möchte behaupten, dass über das Stichwort der Archäologie diese Werke nur sehr abstrakt näher aneinander rücken und sich wechselseitig erhellen. Eher wären sie durch Kategorien wie "Ereignis" oder "Beziehungsgeflecht" zusammenzufassen, denn dem rätselhaften Auftauchen von Wissen und dessen komplexer Gestalt sind sie alle gewidmet.

In einem Interview zu seiner Archäologie des Wissens problematisiert Foucault 1969 den Gebrauch seines Titelbegriffs in diesem Sinne:

 

"Das Wort 'Archäologie' stört mich ein wenig, da es zwei Themen umfasst, die nicht genau die meinen sind. Erstens das Thema des Anfangs [...] Es sind stets relative Anfänge, die ich erforsche, eher Einführungen und Transformationen als Fundamente oder Grundlegungen. Gleichermaßen stört mich auch die Idee der Ausgrabungen. Ich suche nicht nach geheimen, verborgenen Beziehungen [...] ich versuche sichtbar zu machen, was nur insofern unsichtbar ist, als es allzusehr an der Oberfläche der Dinge liegt."12

Stichworte wie Forschung, Erforschung, Analyse, Untersuchung sind bei Foucault im ganzen Werk präsent – als Alternativvorschläge zu traditionellen Begriffen wie Kritik, Rekonstruktion, Destruktion etc., aber auch als Gegenstand seiner Arbeit: wissenschaftliche Forschung, Analyse von Aussagenkomplexen, Untersuchung des Lebens, auch des Subjekts: Foucault ist ein Denker der Selbstbezüglichkeit durch Fremderkundung, ein Hermeneut wider Willen, der seine Entdeckungen als Schlüssel für das Verständnis gebraucht, sie aber nicht als solche "wahrhaben" will. In diesem schwierigen Kontext Foucaultscher Methodologie ohne Methodenlehre ist die Archäologie ein prominenter Kandidat für ein Verfahren, das sich in der Durchführung beweist, nicht in der Anwendung.

Wenn aber nicht Methode, was ist dann Archäologie bei Foucault? Ich schlage vor, den Kontext von französisch "discours" neu zu bestimmen und zu sagen: Archäologie ist Rückgang auf ein anfängliches Sprechen, ein unendliches Sprechen, noch vor der Sinnerwartung. Das sagt in einer wörtlichen Auslegung das griechisch-lateinische Kunstwort; das läßt sich stützen auch auf die alltägliche Bedeutung dessen, was französisch "discours" heißt und ja keineswegs nur ein Sprechen mit Ordnung ist, sondern einfach ein Sprechen. Foucaults Philosophieren ist weit weniger wissenschaftsverhaftet, als man gemeinhin annimmt, und genauere Lektüre kann das problemlos zeigen. Nehmen wir die Bestimmung des Diskurses, welche Foucault in seiner Antrittsrede am Collège de France eingangs gibt, und die schon nicht mehr eindeutig der "Archäologie des Wissens" zugeordnet wird, dennoch aber von daher verstanden wurde und werden kann. Foucault unterstellt, sagt er, daß in jeder Gesellschaft die Diskursproduktion kontrolliert und organisiert sei, daß Verfahren existierten, den Ereignischarakter des Diskurses und seine Materialität, die als Gefahren gelten, zu bannen. Ähnlich klingen die vorliegenden Übersetzungen. Man kann Foucault in dieser Passage aber auch so verdeutschen: In jeder Gesellschaft ist das Sprechen kontrolliert und organisiert, weil es als Ereignis Macht gewinnt und Gefahren heraufbeschwört, als bloßes Sprechen. In dieser Formulierung kommt das Paradox zur Geltung, dass Foucault gar nichts Externes dem Diskurs bzw. dem Sprechen unterlegt oder zur Seite stellt, auch wenn er von Macht, von der Gesellschaft und von zu bannenden Gefahren redet. Die Aufgabe der Archäologie – wenn wir noch so reden dürfen – ist nicht kritisch, eingreifend oder rekonstruktiv, sie ist eine Operation, die Sprache des Sprechens zu artikulieren, das Sagen im Aussagen und das Denken im Reden zu lokalisieren.

 

"Was ich am Diskurs analysiere, ist nicht das System seiner Sprache, noch sind es ganz allgemein die formalen Regeln seiner Konstruktion: mir geht es nämlich nicht darum zu wissen, was sie legitim macht oder ihnen Intelligibilität verleiht und es ihnen ermöglicht, im Rahmen einer Kommunikation zu fungieren. Die Frage, die ich stelle, ist nicht die nach den Codes, sondern die nach den Ereignissen: das Existenzgesetz der Äußerungen, das, was sie möglich gemacht hat – sie und keine anderen an ihrer Stelle; die Bedingungen ihres singulären Auftretens."13

Die Archäologie zieht bei Foucault aus der Natur des menschlichen Sprechens die Facta des Wissens und des Denkens wie einst bei Kant die Archäologie aus der Natur der menschlichen Vernunft die Facta der Vernunft. Und es geht bei beiden Denkern um ein Verhältnis, das zur Natur gewonnen werden muss, nicht weil damit das ganz Andere, Reine und Denkbare erreicht werden könnte, sondern umgekehrt, weil Macht und Ordnung das Gegebene bis ins Letzte bereits durchdrungen haben. So dient die Archäologie bei Kant und bei Foucault nicht der Emanzipation: weder Befreiung eines Unterdrückten – sei es Gefühl, Wahrheit oder Wille – noch ermöglicht sie den Aufstieg zum Eigentlichen – sei es Vernunftsystem, Philosophie oder Freiheit. Foucault spricht in der zitierten Stelle aus seiner Rede über "Die Ordnung des Sprechens" (bekannt als "Die Ordnung des Diskurses") vom Schauplatz seiner Arbeit ("le très provisoire théâtre du travail que je fais"), aber diese Arbeit hat eigentlich keine Schauseite. Foucault war kein Hegel, der den Geist als Inszenierung der Geschichte auftreten ließ, er war kein Coleridge, der antagonistische Kräfte walten sah, und kein Cousin, der die Vergangenheit bewältigen wollte. Foucault war eher ein Kant, der jede durchgeführte Analyse auf "Losen Blättern" in Frage stellen konnte.

 

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Anmerkungen

1Kant, Akademie-Ausgabe Band 20, 1942, S. 341.
2Foucault, DE II, S. 270 (frz. p. 221).
3Für die folgenden Passagen vgl. Ulrich Johannes Schneider, Philosophie und Universität. Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert, Hamburg 2000, S. 151 – 246.
4G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Einleitung, orientalische Philosophie, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1993, S. 5f, 8f.
5Samuel Taylor Coleridge, The Philosophical Lectures, herausgegeben von Cathleen Coburn, New York 1949, S. 87.
6Handschriftliche Anmerkung auf dem Vorsatzblatt zu Tennemanns Geschichte der Philosophie, Bd. 8; vgl. U.J. Schneider, Philosophie und Universität, S. 166.
7Coleridge, The Philosophical Lectures, S. 148; vgl. Schneider, Philosophie und Universität, S. 168.
8Victor Cousin, Cours de Philosophie, Ausgabe Paris 1991, S. 159, S. 160, S. 164.
9Vgl. zum folgenden auch Ulrich Johannes Schneider, Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Philosophiegeschichte, Frankfurt am Main 1990, S. 297 – 320.
10Kant, Akademie-Ausgabe Band 20, 1942, S. 341.
11Thomas Burnet, Archaeologiae philosophicae sive Doctrina antiqua de rerum originibus libri duo, London 1692, Vorwort (p. 1): humanae cogitationis semina et progressus et Divinae Providentia hac in parte regimen et oeconomiam investigamus. Zuvor hat Burnet die Informationen der historia literaria über die Philosophen, ihr Leben, Wanderungen etc. als mit seiner Methode unverträglich abgelehnt. [HAB: M: Nc 500]. Vgl. über Burnets Archäologien Heumann, Acta Philosophorum, Band III (14. Stück Nr. VII), S. 298 – 341, sowie Malusa in Santinello 1, S. 358 – 402.
Auch der noch im 18. Jahrhundert einflußreiche Johann Heinrich Alsted hatte in seinen verschiedenen wissenssystematischen Werken, gipfelnd in der Enyclopaedia 1630, ein Konzept der "Archelogia" als Prinzipienlehre (doctrina de principiis) ausformuliert, vgl. Ulrich G. Leinsle, Wissenschaftstheorie oder Metaphysik als Grundlage der Enzyklopädie?, in: Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung, hg. v. F. M. Eybl, W. Harms, H.-H. Krummacher und W. Welzig, Tübingen 1995, S. 98 – 119, bes. S.102 – 106.
12Foucault, DE I, S. 981 (66: M.F. erklärt sein jüngstes Buch, 1969).
13Foucault, DE I, S. 869 (58: Antwort auf eine Frage, 1968).