Archives as Objects as Monuments
von Christoph Keller
"Suchbilder-Kongress", Kunstwerke Berlin, 8. Februar 2001
Ich bin auf dieses Panel mit dem Titel "Die Ordnung der Archive" eingeladen worden, denke ich, um von meinen konkreten Erfahrungen mit dem Material und der Ordnung des Filmarchivs der Charité und anderen wissenschaftlichen Filmarchiven, die ich untersucht habe, zu berichten. Bevor ich aber dieses Anschauungsmaterial vorstelle, möchte ich eine Unterscheidung zur Diskussion stellen. In einem Text hatte ich geschrieben: "Ein Archiv ist eine beliebige Teilmenge der Welt. Umgekehrt lässt sich jede Ansammlung von Dingen als Archiv begreifen." Wolfgang Ernst hat dem natürlich energisch widersprochen, weil es ihm ja um die Ordnung der Archive geht. "Ein Archiv ist <k!>eine beliebige Teilmenge der Welt", sondern eine hochkodierte und non-arbiträre Form der Speicherung...". Für mich sind Archive aber nicht nur das, was sie sind, also kodierte Daten, sondern auch das, als was wir sie anschauen, also Objekte und möglicherweise sogar Monumente.
Auf das Charité-Projekt kann ich aus Zeitgründen hier nicht im Detail eingehen. Nur so viel: An der Charité in Berlin sind zwischen 1900 und 1990 ca. 1000 Lehrfilme, Aufklärungsfilme und wissenschaftliche Dokumentarfilme hergestellt worden. Diese Filme sind aber nie wirklich gesammelt worden, sondern lagern, sofern sie nicht verschollen sind, in diversen Archiven verstreut. Es gab also weder ein Archiv noch eine Vorstellung von der kontinuierlichen, lokalen Medizinfilmgeschichte, die das Jahrhundert quasi mit wissenschaftlichen Lehrfilmen begleitet. Ich habe dann, um dieses Bild der Geschichte der medizinischen Filme der Charité überhaupt erst zu erzeugen, ein chronologisch geordnetes Archiv von Charité-Filmen 1996 im Netz veröffentlicht. Später ist daraus der "Archiv-Film" "retrograd - eine Geschichte der medizinischen Filme der Charité 1900-1990" entstanden.
Mit dem Archiv der Charitéfilme hatte ich also ein Archivobjekt hergestellt,
das, um mit Wolfgang Ernst zu sprechen, möglicherweise auch eine "hochkodierte
und non-arbiträre Form der Speicherung" ist, aber zusätzlich
auch immer ein Bild von sich selbst erzeugt. Als Künstler interessiert
mich natürlich die Idee von diesem Bild. (Ein Bild ist, allgemein gesagt,
immer eine Reduktion von mehrdimensionalen oder zumindest komplexen Zusammenhängen
auf einer zweidimensionalen Fläche, die von anderen wieder als Bild für
einen Zusammenhang wahrgenommen werden kann.)
Bei der Recherche der Charitéfilme bin ich dann auf eine Reihe von weiteren
Archivobjekten gestoßen, die ich in der Arbeit "Archives as Objects
as Monuments" vorgestellt habe. Der Titel bezieht sich auf eine Arbeit
von Robert Smithon "The Monuments of the Passaic: Has Passaic replaced
Rome as the eternal City?" (1967), in der Smithon versucht, industrielle
Hinterlassenschaften so zu betrachten wie die Ruinen des Römischen Imperiums:
Als Monumente. Der Unterschied besteht aber darin, das Archive nicht alleine
aus ihrer äußeren Architektur und ihren Dokumenten bestehen, sondern
gleichzeitig sozusagen kulturelle Objekte sind, Objekte des Wissens und seiner
Benutzung. Der Grund, warum man jetzt versuchen kann, wissenschaftliche Filmarchive
als Monumente zu begreifen, liegt darin, daß ihre Geschichte gerade zuende
gegangen ist. Weil sie, obwohl sie zum Teil noch zugänglich sind, ihre
eigentliche Bestimmung überlebt haben, also neu geordnet bzw. betrachtet
werden können, als Ruinen oder als Monumente - und möglicherweise
als Ausgangsmaterial für digitale Archive.
Das zweite Archivobjekt ist kein Archiv im eigentlichen Sinn sondern der Rest einer bestimmten Anzahl von wissenschaftlichen Filmen eines geheimen Eugenik-Filmprojekts der Nationalsozialisten, das u.a. an der Charité hergestellt wurde. Die Filmmaterialien wurden, als die Rote Armee 1945 in Berlin einrückte, von Angehörigen der SS im Stössensee bei Spandau versenkt. Von dem Projekt ist wenig bekannt, da kaum Aufzeichnungen archiviert sind. 1993 fanden Kinder beim Baden im Stößensee Filmschnipsel, auf denen medizinische Versuchspersonen aus der betreffenden Zeit zu sehen waren. Das Bundesfilmarchiv ließ tauchen und brachte 160 Filmrollen vom Seegrund hervor, von denen 10 wie durch ein Wunder noch in teilen Bilder enthielten und drei Filme sogar noch abspielbar waren. Einer davon zeigt einen nackten Mann, der auf fremden Geheiß hin bestimmte Bewegungen macht. Mehr können wir nicht mehr erkennen.
Die Geschichte dieser Materialien ist wie sie selbst, nicht wiederherzustellen. Übriggeblieben sind ein paar Bilder, die für ihre verschollene Geschichte stehen. Man kann sich anhand von solchen Bildern fragen, was diese Bilder in einem digitalen Bildarchiv für eine Bedeutung erfahren würden. Vermutlich keine, außer der, durch die verwaschene, zerstörte Emulsion zu den mittelgrauwertigen, ohne zuordbare Bildinhalte gehörigen Bildern zu gehören. Diese Bilder sind für mich ein extremes Beispiel dafür, wie Bilder nicht nur für sich selbst stehen, sondern verknüpft sind mit ihrer Geschichte bzw. ihrer Bedeutung.
Das Bundesfilmarchiv, das die Hebung des Filmmaterials veranlasste, beherbergt
in Berlin-Wilhelmshagen in Tiefbunkern fast eine Million Filme aller Kategorien
vom Beginn der Filmgeschichte an bis heute. Dort ist man mit Fragen eines zukünftigen
digitalen Filmarchivs sehr vertraut und diskutiert viele der Fragen, die auch
hier zur Sprache kommen: Wie kann ein Transfer der unterschiedlichen Materialformate
vonstatten gehen und auf welchen Trägern. Macht es Sinn, davon auszugehen,
daß in 50 Jahren zum Beispiel DVDs noch geeignete Speichermedien sind?
Werden wir dann noch über die geeigneten Geräte verfügen? Da
geht es um die Frage, wie der Bild oder Filmschatz überhaupt in ein digitales
Medium transferiert werden kann. Um zu verdeutlichen, welche Probleme bei dem
Versuch der Umwandlung eines sehr umfangreichen Filmbestandes entstehen, möchte
ich ein Interview anführen, das ich mit dem technischen Leiter des BFA,
Herrn Brandes geführt habe. Es geht um den "zwischenarchivischen Bereich".
Das sind jene Filmrollen, die im Bundesfilmarchiv eintreffen, aber zunächst
nicht im eigentlichen Sinn archiviert werden können. Wenn der Filmtitel
auf der Filmdose steht, dann wird er aufgenommen, mehr jedoch nicht. Dann sagt
er, daß zwei Drittel des Gesamtbestandes (von 1 Mio. Filmen) zu diesem
zwischenarchivischen Bereich gehören und das dieser Anteil ständig
anwächst. (im BFA nennt man das "die Schere".) Ich frage Ihn,
wie lange es dauern würde, all die Filme des zwischenarchivischen Bestandes
zu archivieren. Und er antwortet: Wenn ab heute keine Neuzugänge mehr eintreffen
würden, und wir uns ausschließlich um die Archivierung des Altbestandes
kümmern könnten - vielleicht - dreißig Jahre... Dann frage ich
Ihn, wie lange denn das Filmmaterial sich durchschnittlich hält? Er sagt,
das sei unterschiedlich (manche Filme zersetzen sich kaum, andere, auch jüngere
Filme fallen dem Azetatfraß anheim). Wenn er schätzen müßte
- im Durchschnitt vielleicht dreißig Jahre.
Bedeutet das, daß das Archivprojekt selbst jeweils ein kulturell vergängliches
ist, und die Ordnung der Archive eine Friedhofsverwaltung der archivierten Materialien?
Zwischen den Bildern und ihrem Sinn oder Wert besteht offenbar ein Zusammenhang,
der mehr mit ihrer kulturellen Nutzung zu tun hat, als mit ihrer Archivierung
alleine. Die Technik der Archivierung und die Ordnung der Archive ist darin
ein Hilfsmittel, das sehr wohl auf die Kultur der Benutzung von Bildern, also
auf die visuelle Kultur Einfluss hat; ein Archiv erzählt aber keine Geschichten,
außer vielleicht seiner eigenen.
Die Encyclopaedia Cinematografica
Das Projekt der Encyclopaedia Cinematographica geht auf das Institut für wissenschaftlichen Film zurück, das ab 1952 zunächst in Deutschland, dann unter Federführung des Verhaltensforschers Konrad Lorenz als internationale Organisation den Versuch unternahm, ein umfassendes Archiv der Bewegungsvorgänge zu erstellen. Vorhanden sind etwa 4000 Filme aus diesem Bestand. Eine Matrix sollte die Bewegungsformen aller Gattungen erfassen und diese exemplarisch als Bewegungspräparate von ca. zwei Minuten Länge darstellen.
Es war die Idee, anstelle von gestalteten Filmen sehr reduzierte Themenstellungen
auf Film zu bannen. Also nicht den ganzen Lebenszyklus einer Spezies in einem
Film zu behandeln, sondern je einen Bewegungsvorgang einer Spezies. Zum Beispiel:
Wie läuft ein Pferd? Und dann ein anderer Film: Wie steht ein Pferd? Und
dann noch ein Film: Wie frißt ein Pferd? Und wenn man das für jede
Spezies macht, dann kommen am Ende einfache Filmentitäten heraus, die in
einer bestimmten Vollständigkeit enzyklopädischen Charakter hätten.
Die Struktur war die einer Matrix: Sämtliche Spezies, die es auf der Welt
gibt, und dann sämtliche Bewegungsarten, zu denen sie fähig sind (natürlich
fliegen Pferde zum Beispiel nicht, dafür aber viele Vogelarten).
Und diese Matrix sollte entsprechend ausgefüllt werden, also über
alles, was ein Pferd machen kann, wird ein Film hergestellt. Natürlich
nicht nur über die Tierarten sondern auch über die Pflanzenarten,
den ethnografischen oder später den technischen Bereich, man denke an die
mechanische Beanspruchung von Stahl und so weiter. Wenn man all diese Dinge
in die Matrix gebracht hätte, dann wäre das die Enzyclopaedia Cinematografica.
Die filmischen Einheiten der EC wurden als Kinematogramme bzw. anfangs als Bewegungspräparate bezeichnet. An diesem Begriff des Präparats, das ja etwas präpariertes, also nicht Lebendiges bezeichnet, kann der Wunsch abgelesen werden, jenen Bereich des Lebens, der der genauen wissenschaftlichen Observation und Kontrolle bislang entglitt, die Bewegung, endlich zugreifbar zu machen.
In "Research Film", dem dreisprachigen Zentralorgan der EC, schreibt Wolfgang Wickler 1964: "Seit Gründung der Encyclopaedia Cinematographica ist immer wieder betont worden, die Filme seien Dauerpräparate der vergleichenden Verhaltensforschung und überhaupt jeder Forschung, die sich mit Bewegungsabläufen befasst. Wo der vergleichende Anatom einen Knochen aus der Schublade oder ein Organ aus dem Formoglas holt, greift der vergleichende Verhaltensforscher zur Filmrolle, auf der die Bewegungsweisen konserviert sind."
Wir haben es hier also mit einem Frühbeispiel einer filmischen Enzyclopädie zu tun, die, auch wenn nur etwa 4000 Einheiten tatsächlich produziert worden sind, von ihrer Struktur her die vollständige Abbildung der Welt im Archiv anstrebt. Der Gründer der EC Gotthard Wolf wird mit den Worten zitiert: "Wer hindert uns daran, hunderttausende solcher filmischer Einheiten zu produzieren?". Die Welt wird also segmentiert in Gattungen und die Grundmuster ihrer Bewegungsformen. Die einzelnen Lexeme dieser Enzyclopädie setzen sich aus einer Spezies und einer Bewegungsform zusammen, also aus einem Subjekt und einem Verb. So in etwa wie Pferd-laufen, oder Storch-fliegen etc. In gewisser Weise entspricht dieses Projekt also dem angesprochenen Lexikon filmischer Topoi.
In der Theorie der Gremien der EC wird diese Auffassung als lexikalische Konzeption
bezeichnet. Die lexikalische Konzeption geriet jedoch unter der Hinzuziehung
von modelltheoretischen Überlegungen in einen Erklärungsnotstand,
der auch für das Lexikon filmischer Topoi interessant sein könnte:
Man kam darauf, daß die Abbildungstreue einer fotografischen Abbildung
zwar hoch ist, der Begriff des Wirklichkeitsgehalts aber eigentlich verfehlt.
Das heißt, daß ein Film über ein laufendes Pferd die Situation
des aufgenommenen Pferdes zwar ziemlich genau abbildet, der Film aber vieles
Undefiniertes mittransportiert, als nur die reine Definition des Pferdeganges.
Daher gab es Stimmen in den Gremien der EC, die neben der lexikalischen Konzeption,
auch eine museale Konzeption der EC für möglich hielten. Und obwohl
die Mitarbeiter der EC dabei als Bild ein Naturhistorisches Museum in Form einer
wissenschaftlichen Sammlung vor Augen hatten, kann man die Anregung aufnehmen
und die Frage stellen, ob es sich bei dem hier vorgeschlagenen Lexikon der filmischen
Topoi nicht auch oder gar zutreffender um ein Museum der filmischen Topoi handeln
würde.
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