Das archäologische Gedächtnis

von Stefan Altekamp

Inhalt

Geologie vs. Archäologie
Regelmäßigkeiten der Anlagerung des Archäologischen Gedächtnisses
Überdauerung vs. Überlieferung
Gedächtnisverlust
Maßstäblichkeit
Retrospektive Prognose
Mechanismen des Abbaus des Archäologischen Gedächtnisses
Dokumentation, Archivierung
Zwischen den Stühlen
Repräsentation
Schlußbemerkung

 

Geologie vs. Archäologie

Aus großer Distanz erscheint die Oberfläche der Erde als das Ergebnis natürlicher Prozesse. Im Laufe von Millionen von Jahren hat sich jedoch über weite Bereiche der Kontinentalmassen ein Firnis abgesetzt, der auf das Einwirken des Menschen zurückzuführen ist. Um uns herum und unter unseren Füßen erstreckt sich eine kulturell erzeugte Schicht, die die geologische Stratifikation meist überlagert.
In kulturellen Straten haben sich die Rückstände unzähliger menschlicher Handlungen materiell abgelagert - als Resultate des Eingriffs in die natürliche Umwelt, als Überreste und Spuren von Konstruktionen und Installationen, als außer Gebrauch geratene oder in die Erde deponierte Artefakte.
Selbst temporäre Aufenthalte und flüchtige Momente können sich in diese Formation eingeschrieben haben - wie die vor 3,5 Millionen Jahren in Ostafrika konservierten Fußabdrücke zweier Hominiden in Laetoli, Tansania.
Wie die Spitze eines Eisbergs ragen oberirdisch sichtbar gebliebene Relikte der Vergangenheit in spätere Gegenwarten, darunter erstreckt sich uneinsehbar eine uferlose Formation anthropogenen Schutts. In die Menschheitsgeschichte über deren materiellen Abdruck Einblick zu nehmen, ist das Anliegen der Archäologie. Dass aus dem bei weitem längsten Abschnitt der Geschichte nichts außer Kulturschutt überdauert hat, verleiht diesem Anliegen Exklusivität. Die Exklusivität des Zugriffs aber sollte besondere Aufmerksamkeit auf die Auswirkungen der Stofflichkeit des Gegenstandes sowie die auf diesen Gegenstand ausgerichteten Installationen und Instrumente der Analyse und Verwaltung lenken.
Es gehört zu den zentralen Thesen unseres Projektes, dass Wissen um die Vergangenheit nicht abgelöst von den Medien und Techniken seiner Speicherung und Verarbeitung gedacht werden kann. Von dieser These ausgehend möchte ich mich im Folgenden mit dem Verhältnis zwischen Archäologischem Gedächtnis und Wissensproduktion beschäftigen.

 

Regelmäßigkeiten der Anlagerung des Archäologischen Gedächtnisses

In einem ersten Schritt möchte ich auf einige Regelmäßigkeiten der Anlagerung einer materiellen kulturellen Stratifikation und damit auf situative Bedingungen des Archäologischen Gedächtnisses zu sprechen kommen.
Es ist eine falsche Annahme, Archäologie träfe materielle Kulissen und materielles Inventar vergangenen menschlichen Lebens in einer Konstellation an, die einer lediglich momentanen Abwesenheit früherer menschlicher Nutzer entspräche.
Die unberechtigte Annahme wird von der Archäologie "Pompeji-Prämisse" genannt und z.T. sogar für die namensgebende archäologische Stätte abgelehnt.
Stattdessen steht die Bildung des Archäologischen Gedächtnisses am Ende von Formations- oder Transformationsprozessen, die ein weiterhin sichtbares oder ein unsichtbar gewordenes Resultat hinterlassen.
Das sichtbar gebliebene Vergangenheitsrelikt bleibt genutzt oder ungenutzt Requisite des Schauplatzes fortgesetzten menschlichen Handelns. Nutzungen umschließen praktische Aufgaben oder Beanspruchungen für Geschichtserzählungen. Mit Nutzungen verbinden sich Zweck- und damit Bedeutungszuweisungen. Das archäologische Gut bleibt Gegenstand kultureller Tradierung. Der wachsende zeitliche Abstand vom Horizont seiner Entstehung resultiert möglicherweise in radikalen und substantiellen Adaptionen an neue Bedürfnisse. Derartige Adaptionen können sogar die Fortexistenz materieller menschlicher Produkte auch über die material- und technologiebedingt zu erwartende Lebensdauer hinaus befördern.
So oder so verbindet tradiertes archäologisches Gut potentiell weit auseinander liegende Zeiträume durch eine allen Zeiten zugleich angehörende materielle Existenz miteinander. Es bezeugt potentiell in materiellen Daten Umwertungs- und Umwidmungsprozesse. Dabei löschen spätere Bewertungen frühere nicht vollständig aus, da die älteren in Teilen ihres materiellen Resultats bewahrt bleiben. Tradiertes archäologisches Gut ist Produkt und Indikator kultureller Dynamik.

Das unsichtbar werdende Vergangenheitsrelikt resultiert aus Prozessen der Auflassung, der Außergebrauchstellung, der Hinterlegung, der Entsorgung oder des Verlustes. Die Ursachen für abbrechende Nutzung sind vielfältig, sie umfassen Zerstörung, Gebrauchsuntauglichkeit wegen Verschleiß, Absonderung aus kultischen Gründen, Ersatz durch innovative Alternativen, Desinteresse usw.
Abbrechende Nutzung und die Anlagerung kulturellen Abfalls markieren Trennungsakte. Der Vorgang der Trennung versagt diesem Teilbereich des Archäologischen Gedächtnisses einen entscheidenden Status: den des Archivs. Die Substanz wird nicht mehr überliefert, sie überdauert. Die konkrete räumliche Beziehung der archäologischen Kontexte zueinander stellt keine Ordnung dar, das Überdauern als solches ist nicht intendiert.
Die Archäologisierung, d.h. die Absonderung von Materie ist mit einer Umwandlung und Reduktion dieses Gutes verbunden. Seine Konsistenz ist dadurch geprägt. Die kompakten Kulturrückstände sind so gelagert, wie sie in einem lebenden Kontext weder räumlich noch zeitlich hätten zueinander angeordnet sein können.
Die nach der Archäologisierung herrschenden Überdauerungsbedingungen sind nicht mehr kulturell, sondern natürlich gesteuert. Sie umschließen z.B. weitere Reduktionen durch chemische, physikalische oder biologische Agenten. Die oberflächliche Unsichtbarkeit archäologischer Stratifikationen wird durch kulturelle oder natürlich bedingte Überlagerung bewirkt.
Die unsichtbar gewordene Substanz des Archäologischen Gedächtnisses stellt in ihrer Qualität des Nicht-Archivs einen Speicher kulturell imprägnierten Gutes jenseits kultureller Tradierung dar. Es ermöglicht das Überdauern von Nicht-Überliefertem, von kulturell Vergessenem.

Für die Generierung von Wissen haben die situativen Bedingungen des Archäologischen Gedächtnisses gewichtige Konsequenzen:

1.) Die unsichtbare Hauptmasse des Archäologischen Gedächtnisses ist ein Produkt kultureller Marginalisierung und natürlicher Degenerationsprozesse. Archäologie versetzt nicht in die Lage, vergangene Horizonte in dem Zustand aufzusuchen, wie sie einst von Menschen belebt wurden. Ebensowenig stellt überdauernde Materie eine repräsentative Auswahl der zuvor in systemischem Zusammenhang stehenden materiellen Kultur dar.
2.) Archäologische Analyse eines beliebigen Segmentes des Archäologischen Gedächtnisses kann auf den retrospektiven Nachvollzug der konkreten Entstehung dieses Segmentes aufbauen. Ihr eröffnet sich damit auch die Möglichkeit, gegen die Richtung der Traditionsbildung und damit a priori überlieferungskritisch vorzugehen.
3.) Grenzenlose räumliche Erstreckung und stoffliche Komplexität machen das Archäologische Gedächtnis zu einem extrem schwer systematisch decodierbaren Informationsträger.

 

Überdauerung vs. Überlieferung

Heinrich Schliemann begann mit dem Vorsatz archäologisch zu arbeiten, eine Überlieferung zu bestätigen. Stattdessen eröffnete er primär den Blick auf eine vergessene historische Schicht.

Zwischen Überlieferung und Überdauerung besteht ein Spannungsverhältnis.
Ein gutes Beispiel zur Illustration der Diskrepanz zwischen Tradition und Überdauerung liefert die Paläoanthropologie: Keine Überlieferung kennt die Wanderungen früher Hominiden aus Afrika in andere Erdteile sowie die Umstände ihrer weiteren Verbreitung. Der Verlust der Erinnerung an diese Vorgänge wird jedoch über die Kenntnis materieller Relikte ausschnitthaft umkehrbar.

Überlieferung geht mit Revisionen und der Tilgung konkurrierender Interpretationen einher. Überlieferungsregulierende Mechanismen wirken positiv wie negativ, produktiv und destruktiv. Über den Weg der Überlieferung entscheidet die Kontrolle der Pflegeinstanzen und Träger.
Auch materielle Kultur ist ein Überlieferungsträger. Einflussnahme und Steuerung von Überlieferung schließt massive Interventionen in die physische Umgebung von Menschen ein. Ihre drastischste Form ist die Zerstörung. Die Anwendung zerstörerischer physischer Gewalt ist eine der kulturellen Grenzsituationen, die die Archäologisierung von Kulturgut bedingen. Mit der Archäologisierung geht der Verlust von Bedeutung oder sogar Sichtbarkeit einher, die Voraussetzung für Vergessen: "Aus den Augen, aus dem Sinn." Unsichtbar und vergessen aber bedeutet nicht: nicht-existent.

Bertolt Brecht schreibt: "Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr zu finden."
Karthago wurde nach dem 3. Punischen Krieg 146 v.Chr. durch die Truppen Scipios geplündert und verwüstet. Unter Caesar erhielt die Stadt den neuen, ihrer geänderten Funktion im Machtbereich des ehemaligen Gegners entsprechenden Rechtsstatus einer colonia. Eine der Landmarken des alten Karthagos, der Hügel Byrsa, wurde radikal umgestaltet. An der Stelle eines punischen Wohnviertels entstand das Forum der neugegründeten Kolonie. Die materiellen Zeugnisse der punischen Vergangenheit wurden buchstäblich überschrieben; ihre Rückstände verschwanden in den gewaltigen Unterkonstruktionen des römischen Forums. Die punische Geschichte des Byrsa-Hügels war unsichtbar geworden. Die kulturelle Hegemonie der Sieger brachte auch die historische Überlieferung der Besiegten allmählich zum Schweigen. Wie man einst in Karthago auf dem Byrsa-Hügel wohnte, war vollständig vergessen. Mittlerweile hat archäologische Forschung diese Situation revidiert. Heute sind es die Rückstände des punischen Wohnquartiers, die in ihrer von der Archäologie aufgeräumten Form wieder durchschritten werden können und im "Guide Bleu" beschrieben werden.
Die Überlieferung vom Aussehen des ehemaligen römischen Forums dagegen hat sich nicht bis heute gehalten. Möglicherweise überdauern einige Reste unter der ehemaligen französischen Kathedrale St. Louis.

Materielle Auslöschung großdimensionierter Konstruktionen ist schwer zu bewältigen. Sie ist als solche auch kaum jemals intendiert, denn primäres Ziel des kulturellen Vernichtungsaktes ist die Unbrauchbarkeit, Unkenntlichkeit oder Unsichtbarkeit. Mit entsprechendem Aufwand ist die Unsichtbarkeit als vordergründiges Resultat dieses Aktes revidierbar.
Eine kulturelle tabula rasa ist archäologisch gesehen also meist noch ein Palimpsest, ein mehrfach beschriebener Träger von Informationen, dessen jüngste Schicht die ältere überlagert, aber nicht völlig tilgt.

Wieder exponierte archäologische Erinnerungen an zwischenzeitlich überschriebene Zustände können irritierend und provozierend auf ihren neuen Kontext einwirken. Die freigelegten Keller der ehemaligen Bebauung des Neumarktes in Dresden haben die Erinnerung an die vergangene urbanistische Situation zwar nicht neu etablieren müssen, trugen aber zur Verwandlung von Erinnerung in eine gestalterische Kraft mit dem Ziel der restaurativen Kompensation des Verlustes bei. Sollten die Platzränder erneut bebaut werden, dürften ihnen die archäologisierten Reste der Vorgängerbebauung zum Opfer fallen. Diese belegen in ihrem überlieferten Zustand jedoch nicht nur die ehemaligen oberen Hausgeschosse, sondern auch deren Ende sowie den späteren Umgang mit dem Gelände. Eine Neubebauung würde die einzigen authentischen Reste des Zustandes, dessen annähernde Rekonstruktion gewünscht wird, dezimieren bzw. tilgen.

 

Gedächtnisverlust

Die unsichtbaren Formationen des Archäologischen Gedächtnisses sind oberflächennah zwischen Geologie und Leben abgelagert. Ein Teil wird unberührt überdauern, ein anderer gerät in den Überschneidungsbereich zwischen Archäologie und lebender Kultur.
Rapide wachsende Flächenutzung und technologische Entwicklung führen zur stetigen Dezimierung des Archäologischen Gedächtnisses an diesen Kontaktstellen. Materielle Überreste der menschlichen Vergangenheit werden allerorten frisch Bestandteile des zeitgenössischen Alltags und von diesem absorbiert.
Zwischen den verschiedenen Straten menschlicher Präsenz in einem gegebenen Areal besteht oft keine Kontinuität. Moderne Oberflächennutzung unterliegt Prioritäten und Modalitäten, die denen in unterschiedlichen Vergangenheiten oft in keiner Weise entsprechen.
Mit Bezug auf die historischen Bedingungen der Anlagerung eines bestimmten topographischen Ausschnitts des Archäologischen Gedächtnisses ist die Logik des ungewollten Aufrufs dieses Gedächtnisses sowie der Zerstörung eines Teils seiner Substanz daher zufällig. Nicht zufällig, sondern kulturell gesteuert dagegen sind die Reaktionen auf diese Situation.
Ein Beispiel für Mechanismen dieser Art liefert die Stadtarchäologie. Die beschleunigte Erneuerung der Städte und der ökonomische Zwang zu erhöhtem Tiefenaushub haben seit den 60er Jahren in Europa und den USA Stadtarchäologie als ein eigenes Aufgabengebiet entstehen lassen. Gesteigerte Bodennutzung auch durch eine erhebliche Staffelung von Tiefgeschossen haben besonders in den großen Metropolen mittlerweile weitflächig archäologisch sterile Areale erzeugt. Die entsprechenden topographischen Sektoren des Archäologischen Gedächtnisses sind ausgelöscht.
Neben das historische Mittel der Erinnerungspolitik durch Zerstörung, dessen Auswirkungen bisweilen durch Archäologie revidiert werden können, tritt heute die ökonomisch bedingte Totalauslöschung kultureller Stratifikationen durch derart massive Eingriffe in die oberflächennahe Erdkruste, wie sie erst die jüngere technologische Entwicklung gestattet.

Auf die beschleunigten Verluste haben viele Staaten mit dem Aufbau neuer Fachbürokratien reagiert, die diesen Abgang zwar nicht verhindern, drohende Verluste aber dokumentieren sollen. Auf diese Weise entstehen bizarre Landschaften des Wissens: Verstädterung und Metropolenwachstum haben die Orte des Archäologischen Gedächtnisses, auf denen sich heutzutage große städtische Siedlungen befinden, massiv reduziert. Daher wird momentan über solche Areale, in denen bereits keine archäologische Substanz mehr überdauert, überdurchschnittlich mehr gewusst als über andere. Dieses Wissen bleibt jedoch unwiderruflich an die Techniken der Zeiten gebunden, in denen es produziert wurde. Das Wirken der Stadtarchäologie ergibt cluster archäologisch untersuchter Zonen, deren wesentliche Gemeinsamkeit darin besteht, zufällig unter modernen Metropolen zu liegen. Die archäologische Einsichtnahme in die Geschichte dieser Zonen bleibt für alle Zeit auf die Nutzung der Grabungsarchive beschränkt.
Eng mit der Entwicklung der Stadtarchäologie hängt die Verbreitung eines relativ neuen Grabungstyps zusammen, der Rettungsgrabung. Die Rettungsgrabung wird dort durchgeführt, wo archäologische Substanz durch neues Bauen vernichtet zu werden droht. Ziel ist die dokumentarische Erfassung des bedrohten Gesamtbefundes, ggf. die Bergung beweglicher Objekte. Die archäologische Ressource an dieser Stelle wird prophylaktisch abgebaut. Die Auswahl der Grabungsplätze orientiert sich nicht an Forschungsprioritäten, sondern am Baugeschehen. Während Forschungsgrabungen oft der Klärung konkreter, d.h. auch begrenzter Fragestellungen dienen, liegt der Rettungsgrabung häufig kein spezifisches inhaltliches Interesse zugrunde. Die äußeren Grenzen der Rettungsgrabung werden durch die Parzellengrenzen des Baugrundstücks bestimmt, sie schneiden somit willkürlich in die Strukturen des Archäologischen Gedächtnisses ein. Bei entsprechender Mächtigkeit der archäologischen Stratifikation übersteigt die vertikale die horizontale Erstreckung der Grabung. Die Ergebnisse der Grabung lassen sich daher inhaltlich oft nicht auf einen Nenner bringen. Ihre Publikation erscheint dann besonders unattraktiv, die Dokumentation bleibt auf die einfache Archivierung beschränkt. Methodisch erwies sich der weniger interessengeleitete Typ der Rettungsgrabung als innovativ, gründet er sich doch auf ein quasi editorisches Prinzip der archäologischen Traktierung eines gegebenen Areals.
Eine weitere Qualität der Rettungsgrabung liegt in der überragenden Bedeutung ihres Ortsbezugs. Die Rettungsgrabung widmet sich der archäologischen Totalität eines bestimmten Ortes. Ergeben die archäologischen Straten auch keine funktionale Kontinuität, die örtliche Kontinuität bleibt gewahrt. Die Wahl des Ortes aber erfolgt prinzipiell unabhängig von einer Zuweisung von Bedeutung und Rang. Verlust an Archäologischem Gedächtnis und sein Abfallprodukt, die Rettungsgrabung, haben zur Demokratisierung von Archäologie und ihrer Verankerung im Alltag beigetragen.

 

Maßstäblichkeit

Die Wahrnehmung der materiellen Substanz des Archäologischen Gedächtnisses ist lange von den biologisch vorgegebenen Möglichkeiten des Menschen abhängig gewesen. Position und Leistungsfähigkeit des menschlichen Auges bildeten den Maßstab für den potentiell erfahrbaren Ausschnitt des Archäologischen Gedächtnisses.
Die anthropogene Prägung der Oberfläche des Planeten Erde stellt prinzipiell ein Kontinuum dar, von jeder bodenverhafteten menschlichen Perspektive aus kann jedoch nur ein sehr beschränkter Ausschnitt der Erdoberfläche eingesehen werden. Das hat lange die Erkennung archäologischer Großstrukturen wie ganzer Siedlungsbilder oder linearer Irrigations- oder Verteidigungssysteme verhindert.
Seit etwa 100 Jahren erweitert die Prospektion aus der Luft archäologische Forschung um eine im wahrsten Sinne des Wortes distanzierende, abstrahierende Perspektive. Die Kategorie sichtbarer archäologischer Relikte hat sich dadurch erweitert. Luftprospektion liefert vor allem Daten, die dem Überblick über die oberflächlich sichtbaren Strukturen des Archäologischen Gedächtnisses dienen; sie hat den statistischen Aspekt der archäologischen Wissensvermehrung gestärkt.
Die Erweiterung der Sichtbarkeit kultureller Relikte durch Distanz findet ihre Entsprechung im Mikrobereich. Eigenschafts- und Merkmalsanalysen kulturell imprägnierter Materie sind mit der Beschränkung auf makroskopische Untersuchungen inhaltlich willkürlich beschränkt. Die Unterstützung des menschlichen Auges durch Vergrößerungsinstrumente wirken der Beschränkung entgegen.
Erweiterte räumliche Distanzierung wie Annäherung sind auf apparative Unterstützung angewiesen. Satellit und Mikroskop stehen für zwei Extreme der Erweiterung der Wahrnehmbarkeit archäologischer Materie. Damit büßt diese an unmittelbarer Anschaulichkeit deutlich ein.

 

Retrospektive Prognose

Die prinzipielle Undurchsichtigkeit des Erdbodens kann heute partiell ausgeglichen werden: 1.) durch Modelle, die der Unkenntnis historischer Topographien mit der Etablierung von Wahrscheinlichkeiten für die Existenz archäologischer Lagerstätten bestimmten Typs an bestimmten Orten begegnen; 2.) durch geophysikalische Verfahren, die über Reflexe in den Boden gesendeter Signale regelmäßige Strukturen unterhalb der Oberfläche erkennbar machen können.
Mit Hilfe archäologischer Prognostik wird aus Bekanntem Unbekanntes gefolgert. Die bisherige archäologische Forschung lässt Relationen zwischen naturräumlichen Situationen und menschlichen Nutzungen erkennen. Diese Beziehungen ergeben u.U. zeitlich gebundene Präferenzen für Typen von Siedlungsplätzen, so dass umgekehrt bestimmten Plätzen die Nutzung zu bestimmten Zeiten unterstellt werden kann. Trotz der Möglichkeit, Wahrscheinlichkeiten jenseits der Überlieferung zu etablieren, unterliegt die archäologische Prognostik der Gefahr des Zirkelschlusses.
Geophysikalische Untersuchungen oberflächennaher Straten können Regelmäßigkeiten erkennbar machen, die unmittelbar als Grundrisse von Menschen errichteter Konstruktionen verständlich werden. Keine Angaben enthalten die von der Geophysik erzeugten Bilder über Tiefenräumlichkeit und Materialität der archäologischen Kontexte.
Auch Prognostik und Prospektion sind keine Instrumente, die flächendeckend Anwendung finden. Daher (und aus Gründen prinzipiell nicht zu eliminierender Unwägbarkeit) haftet der Begegnung mit dem Archäologischen Gedächtnis immer wieder Überraschendes an. Oft wirkt sich der Kontakt massiv verändernd auf die moderne topographische Situation aus. Der Trierer Viehmarkt sollte überbaut werden. Die Entdeckung eines römischen Großbaus sowie Vorgänger- und Nachfolgebebauung machte diesem Vorhaben ein Ende. Heute sind einige der festen Reste unter einem verglasten Pavillon konserviert. Jetzt definiert die Vergangenheit den Platz. Die Platzpflasterung nimmt den Straßenverlauf des römischen Trier auf.
Selbst im Mittelmeerraum können noch immer ganze von der Überlieferung vergessene Städte jäh wieder in Erscheinung treten - so wie eine namenlose Siedlung der Alexanderzeit in Polyneri in Makedonien oder das "etruskische Pompeji" bei Massa Marittima.

 

Mechanismen des Abbaus des Archäologischen Gedächtnisses

Prognostik und Prospektion geben Auskunft über wahrscheinliche Fundstellenverteilungen oder den Typus archäologischer Denkmäler, ersetzen aber nicht deren Analyse.
Stratifizierte archäologische Materie wird für die Informationsgewinnung dann aktivierbar, wenn sie aus dem Zustand der Unzulänglichkeit, den ihre allmähliche Absonderung aus lebendigen kulturellen Zusammenhängen verursacht hat, physisch abgelöst wird. Der Ablösungsprozess aber bedeutet Zerlegung, d.h. Teilzerstörung der vorgefundenen Formationen, in der Folge Selektion sowie Verteilung und Neuanordnung des Selektierten. Archäologisiertes Kulturgut kann nicht in dem Zustand befragt werden, in der es als Ressource gebildet wurde, sondern nur in bereits durch massive Intervention aufbereiteter, d.h. manipulierter Form.
Der archäologischen Grabung kommt dabei besondere Bedeutung zu.
In einem Archäologiebuch für Kinder aus dem Jahre 1970 wird die vorbildliche der nichtvorbildlichen Grabung gegenübergestellt. Die korrekte Grabung besitzt mit ihrer Reihe regelmäßig abgesteckter Grabungsquadrate eine charakteristische Physiognomie, die sie mit der bekanntesten und verbreitetsten archäologischen Grabungsmethode des 20. Jahrhunderts, der Methode nach Mortimer Wheeler, verbindet.
Eine Dilettantengrabung des mittleren 19. Jahrhunderts und eine Wheeler-Grabung auf dem indischen Subkontinent etwa 100 Jahre später unterscheiden sich nicht nur methodisch, sondern auch habituell entschieden voneinander. Das abstrakte Raster der Grabungsquadrate nach Wheeler ergibt geradezu eine Ikonographie archäologischer Akkuratesse und Disziplin, sie ist bildlicher Ausdruck des Anspruchs auf Professionalität.
Der Anblick einer Grabung der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts in London scheint sich auf den ersten Blick der im Kinderbuch als chaotisch gebrandmarkten Grabung anzunähern. Doch der Wechsel des äußeren Erscheinungsbildes ist auf einen konzeptionellen Wandel gegenüber der Methode Wheeler zurückzuführen. An die Stelle eines festen externen Koordinatensystems, innerhalb dessen die archäologische Stratifikation vertikal und horizontal tranchiert wird, tritt der Nachvollzug der polymorphen Bausteine der Kulturschichten selber als entscheidendes Steuerungsprinzip. Der Zugriff der Grabung erfolgt nicht über eine Serie vordefinierter Schnitte, sondern ergibt sich flexibel aus den Befunden. Dadurch büßt die Grabung auch ihren martialischen äußeren Aufbau wieder ein, ohne in ihrem Anspruch auf Akkuratesse nur im geringsten zurückzustehen. Auch in diesem Fall ist durch die methodische Evolution hindurch ein habitueller Wandel der Profession Archäologie zu greifen.
In der konzeptionellen Auffassung von Grabung können große Unterschiede bestehen. Diese Unterschiede spiegeln z.T. eine historische Abfolge, sind aber auch Gegenstand eines aktuellen Methodendisputs. Bei einem Blick auf die Verbreitung der jeweiligen Methoden scheinen noch immer nationale Grenzen durch. Das stellt den Bemühungen um Vorurteilslosigkeit des Disputs kein gutes Zeugnis aus. Wenn nach unserer These die konkrete Einrichtung und das konkrete Vorgehen einer archäologischen Ausgrabung das von ihr produzierte Wissen mitbeeinflussen, gehört die wissenschaftliche Diskussion über die Technik der Grabungen zur Grundlagenforschung. Die institutionalisierte Archäologie in Deutschland weist der Grabungstechnik jedoch vor allem den Rang einer Routine zu, die sich in der Praxis tradiert. Es mangelt an der kulturwissenschaftlichen Evaluation der gegebenen Verfahren und an einer gegenseitigen Befruchtung von Theorie und Praxis. Ebenfalls bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass eine archäologische Grabung noch immer nicht zwingend professionelle Grabungsarchäologen erfordert. Neben vielen Spitzenchirurgen betätigen sich nach wie vor Quacksalber.

 

Dokumentation, Archivierung

Die archäologische Ressource im Prozess des Abbaus zerfällt in die Stratifikation, d.h. die Gegebenheiten ihrer räumlichen Lagerung sowie in transportables, durch Objekte oder deren Fragmente gebildetes Fundgut.
Mit dem analysierenden Abbau lösen sich die archäologischen Kontexte von eher loser Konsistenz auf. Um Wissen über die ursprünglich vorgefundene Situation zu bewahren, müssen zu diesen Kontexten Daten erhoben und als solche in neuen Formaten fixiert werden. Dieser Datentransfer ist einer der heikelsten Momente archäologischer Praxis; objektive Datenerfassung und Interpretation vermengen sich unweigerlich. Das Produkt des Transfers besteht vor allem aus abstrahierender, d.h. interpretierender Zeichnung, aus verbaler Beschreibung und aus Photographie. Die graphische Dokumentation vollzieht die gravierende Reduktion der räumlich komplexen Befunde um eine auf lediglich zwei Dimensionen.
Durch Professionalisierung, Arbeitsteiligkeit und vermehrte Nutzung kodierbarer Informationen (etwa zu Farbwerten) wird versucht, den Faktor Interpretation durch größtmögliche Unterdrückung subjektiver Ermessensspielräume zu minimieren. Dennoch bleibt die Schnittstelle zwischen archäologischem Befund und den ihn repräsentierenden Deskriptoren, Linien, Farben und Photos neuralgisch. Neuere Ansätze nehmen dieses Problem offensiv auf und akzeptieren die Interpretation als festen Bestandteil auch der Dokumentation.

Die Stratifikation wirft das Problem auf, nicht konserviert werden zu können. Für das bewegliche Fundgut stellt sich diese Schwierigkeit nicht. Allerdings können die Funde unter so vielen Aspekten analysiert werden, dass die Praxis oft nur eine Auswahlanalyse vorsieht. Diese Auswahl wird entweder bewusst oder rein gewohnheitsmäßig getroffen.
Dazu ein kleines Beispiel aus dem Bereich der Analyse von Fundkeramik: Alternative Untersuchungen spiegeln nicht selten wissenschaftliche Schwerpunktsetzungen oder beruhen auf unterschiedlichen nationalen Forschungstraditionen. Die typologische Untersuchung der Formen, etwa der Profile oder der Dekoration, liefert besonders Aussagen zur Chronologie und zur intendierten Funktion. Sie unterstützt die Bildung idealtypischer Rekonstruktionen. Die mikroskopische Untersuchung der Ware konzentriert sich auf die Materialeigenschaften des Tons. Sie liefert vor allem produktionsbezogene Informationen und gibt Aussagen über Provenienzen. Unterstützt wird die Rekonstruktion fallbezogener Situationen. Je nachdem, ob auf der gegebenen Grabung ein Produktions- oder Nutzungskontext vorliegt, sind die jeweiligen Aussagen über Provenienz und Funktion von unterschiedlicher Tragweite.

Mit dem Ersatz des Befundes durch die Dokumentation verliert die Archäologie eine Quelle. Die Grabung wird erst wissenschaftlich handhabbar, wenn sie die überdauernden Kulturrückstände in Überlieferung rückübersetzt. Die aufgerufene archäologische Ressource nimmt notwendig die Gestalt eines Archivs an. Dem Archiv der Grabung stellen sich neue Aufgaben: Speicherung und Ordnung. Das Speicherungsproblem führt Archäologie heute vor dieselben Herausforderungen, die sich der Tradierung textlicher Überlieferung bieten. Das Ordnungsproblem ergibt sich mit noch größerer Schärfe, wie am Beispiel des beweglichen archäologischen Fundgutes näher ausgeführt werden soll:
Mit der Zerlegung archäologischer Befunde sortiert sich die Materie in zwei Kategorien: Die archäologischen Kontexte der Desintegration, Verfüllung, Verschüttung etc. sind nicht konservierbar und werden erneut - ggf. nach einer Dokumentation - zu Abfall und Rückstand. Von Menschen produzierte Objekte und Strukturen jedoch können als solche isoliert erneut in kulturelle Zusammenhänge überführt werden. Das gilt insbesondere für alle transportablen Objekte. Die räumliche Ablösung dieser Funde aus ihren Kontexten löscht ihre Bindung an die konkrete kulturelle Situation, in der sie archäologisiert worden sind. Ihre weitere Verwahrung bedarf der Entscheidung über ihre zukünftige Ordnung.
Zwei konträre Optionen seien hervorgehoben: 1.) Die neue Anordnung orientiert sich an der Fundsituation, d.h. sie schafft Gruppen von Objekten, die sich an ihrer Vergesellschaftung zum Zeitpunkt der Archäologisierung orientieren.
2.) Die neue Anordnung orientiert sich an den äußerlichen Merkmalen der Funde und stellt diese nach Ähnlichkeiten und Unterschieden neu zusammen.
Die erste Option räumt der konkreten archäologischen Situation und damit der Dynamik von Kultur Priorität ein. Sie stellt höhere organisatorische Anforderungen, da sie nur mit Hilfe einer begleitenden Dokumentation realisiert werden kann. Die zweite Option rückt aus einer überörtlichen Perspektive idealtypische Zustände und Abläufe in den Blickpunkt. Sie ist allein über die Funde auch ohne begleitende Dokumentation realisierbar und beliebig rekonstruierbar. Daher ist sie historisch die geläufigere Lösung. Trotz ihrer Potentiale negiert sie in wesentlichen Punkten den Informationsgehalt des Archäologischen Gedächtnisses.

 

Zwischen den Stühlen

Den aufgeführten praktisch-analytischen Verfahren der Archäologie ist nicht zuletzt Aufwändigkeit eigen. Sie erfordern einen erhöhten apparativen und organisatorischen Einsatz und sind daher auf eine günstige personelle, finanzielle und logistische Ausstattung angewiesen. Diese Voraussetzungen sind nur unter wirtschaftlich robusten und infrastrukturell privilegierten Bedingungen gegeben. Unter globaler Perspektive geschieht der Aufruf des Archäologischen Gedächtnisses daher unter sehr ungleichen Bedingungen. Archäologisches Eindringen in menschliche Geschichte ist auch ein Spiegel wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Damit stellt sich der Topographie des Archäologischen Gedächtnisses eine Topographie archäologischer Aktivität an die Seite. Die beiden Landschaften entsprechen sich nicht. Die Konturierung der einen ist mit Blick auf die andere oft willkürlich.

Erhöhter apparativer und organisatorischer Einsatz ist nicht allein von wirtschaftlichen Voraussetzungen abhängig. Der technische Aspekt von Archäologie berührt das Selbstverständnis vieler Archäologen. Technik bedeutet auch Unanschaulichkeit sowie fremdes Expertentum. Archäologie hat aus prinzipieller Skepsis gegenüber Technik sowie Unbehagen gegenüber sich aufgliederndem Spezialistentum einen Teil ihres Selbstbewussteins bezogen. In Verteidigung einer exklusiv geisteswissenschaftlichen Hermeneutik verzichten noch immer Archäologen bewusst auf größere technische Unterstützung. Die Disparität der archäologischen Gesamtproduktion wird dadurch weiter erhöht.

 

Repräsentation

Auf zwei Ebenen bedarf die ergrabene archäologische Ressource der Dokumentation:
1.) Während des Prozesses der Zerlegung einer archäologischen Stratifikation werden Daten erhoben und umgeschrieben. Die auf Trägern wie Papier, Film, magnetischen oder digitalen Speichern festgehaltenen Informationen bilden den Ersatz für verlorene Befunde.
2.) Nicht mitteilbares Wissen ist nicht etabliert. Um kommuniziert werden zu können, bedarf archäologische Materie, die sich nicht wie ein an Buchstaben gebundener Gedanke verbreiten lässt, einer komplexen medialen Vermittlung. Während die Dokumentation der verlorenen Befunde reproduziert werden kann, müssen nun auch die beweglichen Objekte medial repräsentiert werden. Die dabei gängigen Optionen verbale Beschreibung, Zeichnung und Photographie verdeutlichen die Probleme der Informationsreduktion auch bei dieser Datenübertragung.
Die Konsultierbarkeit veröffentlichter Dokumentationen bindet sich an deren formale wie inhaltliche Organisation. Unter der formalen Organisation können Editions- bzw. Publikationstypen verstanden werden, so zum Beispiel Grabungspublikationen, Museumskataloge, Objektcorpora. Die naheliegend erscheinende Präsentation von Information in diesen traditionellen archäologischen Publikationsformen kann darüber hinwegtäuschen, in wie starkem Maße bestimmte inhaltliche Anfragen begünstigt, andere dagegen behindert werden. Zu den schwer nachvollziehbaren Situationen gehört oft ausgerechnet die Ausgangssituation der Entarchäologisierung, d.h. die konkrete Befundlage im Augenblick der Aufdeckung und Zerlegung. Auch alle komparatistischen Interessen werden schlecht bedient. Für die Erstellung vieler materialbezogener archäologischer Dissertationen sind zum Ausgleich dieses Mankos ganze Spezialbibliotheken komplett durchgeblättert worden.

Eine theoretische Möglichkeit der Entschärfung dieses Problems liegt in der Materialaufbereitung über Datenbanken. Durch die Datenbank als solche nicht gelöst jedoch ist das Problem der inhaltlichen Repräsentation.
Die vergleichende Interpretation materieller Kultur bedarf der Bindung von Merkmalen an vereinbarte Symbole und Begriffe, d.h. der Versinnbildlichung oder Versprachlichung wesentlicher Eigenschaften. Ein archäologischer Befund oder Fund besitzt in seinem Material, seiner Gestalt, seinen technologischen und ideellen Entstehungsvoraussetzungen, seiner kulturellen Biographie bis hin zu den Umständen seiner Archäologisierung eine schwer übersehbare Vielfalt an ablesbaren kulturellen Koordinaten. Selten werden die zugehörigen Daten und Positionen zusammenhängend erfasst. Noch seltener werden sie systematisch in Begriffe und Symbole überführt.
Ein allgemein anerkanntes System normierter Begriffe und Symbole existiert nicht ansatzweise. Damit ist eine weitere Crux archäologischer Praxis markiert: Die von der Archäologie über mehrere Reduktionsstufen hinweg etablierten Arbeitsresultate sind übergreifend nur eingeschränkt abrufbar.
Wie sehr dieses Manko den Aufbau innovativer Informationssysteme behindert, zeigen Projekte wie der britische "Archaeological Data Service" oder das deutsche Projekt "Prometheus" einer verteilten digitalen Bildersammlung, die in der fehlenden Infrastruktur der Metadaten ihr wahrscheinlich größtes Hindernis besitzen.
Die fehlende Kodierung hat für den Wiedereintritt der im Archäologischen Gedächtnis eingelagerten Informationen in kulturellen Gebrauch verheerende Konsequenzen: nur ein kleiner Ausschnitt der unendlichen bereits erhobenen archäologischen Datenmengen wird im disziplinären und interdisziplinären Diskurs überhaupt verwertet. Noch geringer ist der Anteil außerwissenschaftlichen Niederschlags, der sich in der Regel auf die Bestätigung einiger weniger Klischees beschränkt.

Ich möchte zum Schluss kommen.

Eine systematische Analyse des Archäologischen Gedächtnisses stellt eine praktisch uneinlösbare theoretische Option dar.
Die archäologische Stratifikation ist größtenteils unsichtbar. Ihre Topographie lässt sich nur teilweise ohne direkten physischen Eingriff etablieren. Physische Eingriffe (archäologische Grabungen) bleiben lokal begrenzt. Ihre Verteilung ist ungleich und wird stark durch externe Faktoren gesteuert.
Die Verfügung über einen Ausschnitt des Archäologischen Gedächtnisses zu Zwecken der Analyse setzt dessen Reduktion durch Zerlegung und Teilzerstörung voraus. Schon dem ersten analytischen Arbeitsschritt ist ein Akt der Interpretation vorgeschaltet.
Selektionen, Reduktionen und Wertungen beeinflussen auch fast alle übrigen Verfahren der Dokumentation, der Archivierung und der Repräsentation. Einzeldaten können diese Filter ohne Übertragungsverluste durchlaufen, jede auf diesen Daten aufbauende Interpretation ist durch die Wirkung der Filter mitgeprägt. Das ergibt den für die Archäologie konstitutiven Dualismus von Objektivität und Subjektivität, Faktizität und Konstruktion.
Die von der Archäologie entwickelten oder beanspruchten technischen Verfahren der Datenerhebung und -übertragung stellen in der Praxis der Wissenschaft keine Standards, sondern Optionen dar. Das gilt sowohl für den Einsatz eines jeden Verfahrens wie für alle denkbaren kombinierten Anwendungen. Über die Nutzung im Einzelfall entscheiden inner- wie außerfachliche Präferenzen und Vorgaben. Archäologische Interpretation ist daher das Produkt des Einsatzes völlig heterogener technischer Installationen. Die Abhängigkeit jeder konkreten Installation von einem ganzen Bündel beeinflussender Faktoren würde es nahe legen, Installationen zu typisieren und das Ergebnis aufgrund der starken öffentlichen Präsenz von Archäologie kulturtypologisch nutzbar zu machen.

Ein medienkritischer Blick auf Archäologie verheißt aufregende Perspektiven: Archäologie und Überlieferung stehen in einem spannenden Wechselverhältnis, Archäologie eröffnet nachträgliche Einblicke in vergessene oder verworfene Konstellationen und Konzeptionen. Der Aufruf des Archäologischen Gedächtnisses verspricht gerade im Falle ausgesprochener Überlieferungskulturen wie etwa der griechisch-römischen Antike substantielle Revisionen verfügbarer Geschichtserzählungen.

Mit dem Verständnis der Anlagerungsbedingungen archäologischer Stratifikationen leuchtet ein alternatives, ein prozessorientiertes kulturbeschreibendes Paradigma auf.

Auch Überlieferungskritik und Analyse der Dynamik materieller Kultur sind zu systematischen Arbeitsansätzen ausbaubar; auch deren Ergebnisse sind von kulturtypologischer Relevanz.

Gründet sich die aktuelle Faszination der Archäologie nicht zuletzt auf die diskrete Materialität ihrer Gegenstände und die kühle Technizität des Umgangs mit Vergangenheit?
Dazu ist zu sagen, dass archäologische Materie in unverarbeitetem Zustand nur beschränkt zugänglich ist. Je zugänglicher sie über Identifizierung, Grabung, Dokumentation, Archivierung und Publikation wird, desto mehr ist ihre Substanz geschwunden.
Die einzelnen Stationen im archäologischen Arbeitsprozess sind äußerlich oft durch apparativen Einsatz gekennzeichnet. Dabei ist nicht zu vergessen, dass Technik in der Archäologie neben der möglichst präzisen Erhebung vor allem der prekären Transformation von Daten dient.

Sind also auch die von der Archäologie angebotenen Szenarien nichts weiter als Konstrukte? Immerhin fließen in die Konstrukte der Archäologie harte und unabweisbare Evidenzen ein.

Eine Klassifizierung der Archäologie im Sinne eines der angeführten Extreme geht nicht auf. Dass letztlich jede weitere einheitliche Einordnung scheitern müsste, liegt an einer wesentlichen Eigenschaft: sie ist eine heillos kulturell verstrickte Betätigung.

 

Und hier können Sie diesen Text downloaden oder drucken.

Zurück zum Index oder zur Startseite.