"Ausgraben und Erinnern - Benjamins archäologisches Denkbild"
(Benjamins Blitzkrieg)

von Knut Ebeling

Inhalt

Kapitel I.
Kapitel II.
Kapitel III.
Kapitel IV.
Kapitel V.
Kapitel VI.
Anmerkungen

I.

Macht man sich auf die Suche nach einer Archäologie oder nach Archäologischem bei Walter Benjamin, so eröffnen sich dem Suchenden zunächst zwei Optionen: Entweder er entscheidet sich dafür, das gesamte Werk dieses Autors archäologisch zu finden, wonach ihm sicher sein gesamtes Schreiben als ein gigantisches Trümmerfeld zwischen Berlin und Paris, Literatur und Philosophie, Vergangenheit und Gegenwart erschiene, als die gewaltige Ruine eines unvollendeten Werks, vor der sich seine zahlreichen Deuter fraglos irgendwann als Ausgräber, als Archäologen eines in dunklen Tiefen verborgenen Schrifttums haben vorkommen müssen. Archäologisch könnte man jedoch nicht nur die abenteuerlichen Überlieferungsumstände vieler Texte des 1940 auf der Flucht verstorbenen Philosophen finden, sondern ebenso deren Themen und Timbre. Es ist oft kommentiert worden, dass Benjamins gesamtes Schreiben mit einem nostalgischen Schmelz überzogen sei, dass seine rückwärtsgewandten Betrachtungen der Geste des Melancholikers entsprächen, dem alles Vergangene bereits zur Ruine erstarrt. Benjamin ist nicht verschont geblieben von der üblen Nachrede in Form von intellektuellen Physiognomien, die aus seinem Werk eine verstaubte Bibliothek mit Schneeeinbruch gemacht haben (verzeihen Sie diesen naheliegenden Vergleich). Diese Form der Musealisierung disqualifiziert schon allein die Tatsache, dass sich Benjamin weniger für das nostalgische Objekt als für das Nostalgische als Phänomen und weniger für die verstaubte Bibliothek als für das Staubige als Bestandteil ihrer Lesbarkeit interessierte – für jene “graue Staubschicht auf den Dingen” (GS II 620), die den “besten Teil” jenes Traumes darstelle, als den Benjamin die Geschichte mit archäologischen Mittel demaskieren wolle, wie er in seiner surrealistischen Glosse zum Traumkitsch von 1925 schreibt.
Ich schlage also vor, nicht das gesamte Benjaminische Schreiben als archäologisch zu verstehen, sondern nur das buchstäblich Archäologische. Begibt man sich auf die Suche nach einem veritablen Begriff von Archäologie bei Benjamin, so ist die Ausbeute nicht eben begeisternd. Eine spärliche Seite in einem Notizheft und eine einzige Manuskriptseite hat Benjamin für die Archäologie übrig gehabt. Die Manuskriptseite trägt jedoch einen einschlägigen archäologischen Titel; sie ist überschrieben mit Ausgraben und Erinnern. Bei diesem Text und bei dieser Überschrift fangen die Probleme auch schon an, die nicht zuletzt jedem Archäologen bekannt sein dürften. Denn nicht nur ist der genaue Zeitpunkt der Niederschrift unklar, es existieren auch noch zwei Fundorte des Textes in zwei verschiedenen Fassungen: Zunächst einmal befindet sich ein kurzer Text unter dieser Überschrift in einer Sammlung namens Denkbilder (GS IV.1, 305-438), die von Theodor W. Adorno aus Benjamins Anfang der dreißiger Jahre aus größtenteils in der Frankfurter Zeitung publizierten Städtebeschreibungen und Glossen, Theoriefragmenten, Reflexionsfetzen und Betrachtungen zusammengestellt wurden und die aus einer Überschrift und einem kurzen Text bestehen.1 Lässt sich der Großteil dieser Miniaturphilosopheme – Miniatur eher im Sinne des französischen mineur, was ja ebenso klein, minder oder gering, wie eben auch Pionier oder Minenleger bedeutet –, lässt sich der Großteil dieser philosophie mineure über das Datum ihrer Publikation oder über briefliche Äußerungen bestimmen, so bleibt Benjamins archäologischstes Denkbild Ausgraben und Erinnern archäologisch undatierbar.2 An keiner anderen Stelle des Werks wird auf das Stück hingewiesen; zu keinem anderen Stück fallen die Anmerkungen der Herausgeber (GS IV.2, 1001) derart spärlich aus. Das einzige, was existiert, ist ein getipptes Manuskript, das im Adorno-Archiv unter der Nummer 929 verwahrt wird.
Was an dem zur Publikation gedachten Ausstellungsstück in der Vitrine der Denkbilder nicht gelingt, mag vielleicht an deren ursprünglicher Fassung möglich sein. Es existiert nämlich eine fast wortgetreue Urfassung des Abschnitts in der Berliner Chronik (GS VI 486), einer Sammlung autobiographischer Texte von 1932, die jedoch von Benjamin nie veröffentlicht wurde. Die Berliner Chronik stellt die “Keimzelle” (GS VI 797) der bekannteren Berliner Kindheit um neunzehnhundert dar, wie Gershom Scholem anlässlich der ersten Publikation der Berliner Chronik 1970 anmerkte.3 Das Denkbild wurde in seiner Urfassung also erst nachträglich 1970 in der Edition der Berliner Chronik in seiner ursprünglichen Form lesbar, nachdem die Auskopplung aus den autobiographischen Schriften, die Version für die Galerie, bereits 1955 unter dem Titel Ausgraben und Erinnern von Adorno herausgegeben worden war. Für eine genaue Datierung bringt freilich auch die Urschrift nichts. Ebensowenig wie den beiden Fassungen ein definitives Datum der Niederschrift zu entlocken ist, lassen sie sich über ihre Textabfolge identifizieren: Adornos Textcollage auf der einen steht Benjamins sprunghafte Niederschrift der Berliner Chronik4 auf der anderen Seite in nichts nach. Kurz, Benjamins archäologischste Passage ist in nahezu archäologischer Weise fragmentarisch überliefert – was unter anderem die dringende Frage nach der Zuordnung des Denkbildes aufwirft, das von der Forschung wahlweise dem autobiographischen Produktionskreis der Berliner Kindheit oder dem para-archäologischen Passagen-Werk zugeschlagen wird.5

Man möchte jedoch meinen, dass dieser für einen (in archäologischer Zeit) so jungen Autor enttäuschende Befund durch den Inhalt der beiden Stücke nichts weniger als entschädigt wird. Die Bedeutung des Abschnitts besteht zweifellos darin, dass er die Abwesenheit jedes kenntlichen Begriffs von Archäologie im Werk Benjamins in sich kompensiert und als Gravitationspunkt dieser Leere sammelt. In diesem Abschnitt kommt die archäologische Verbindlichkeit, von der Benjamins gesamtes Werk esoterisch durchtränkt sind, exoterisch ans Licht. In der Tat scheint die trübe Faktenlage durch eine vollständige Lesbarkeit der Inhalte durchaus aufgewogen zu werden; beide Stücke scheinen vollständig aus sich selbst heraus erschließbar zu sein – was immer es mit diesem “aus sich selbst heraus” auf sich haben könnte. Entscheidet man sich also dafür, Archäologie bei Benjamin streng zu nehmen, so ist die Ausbeute von zwei Seiten aus einem umfänglichen Werk zwar nicht gerade berauschend. Diese beiden Seiten haben es jedoch in sich – soviel sei schon jetzt versprochen.
In ungewöhnlicher Dichte findet sich im Denkbild versammelt, was man eine Benjaminische Archäologie nennen könnte. Auch wenn beide Stücke jeweils nur kurze skizzenhafte Abschnitte darstellen, konzentriert sich hier der Kern dessen, was bei Benjamin archäologisch ist oder es in den wenigen Jahren, die Benjamins Schaffen verblieben, sein wird. Mit diesen wenigen Sätzen positioniert Benjamin die archäologische Aktivität des Ausgrabens im Herzen seiner methodischen Reflexion zu Beginn der dreißiger Jahre. In ungeheurer Dichte wird eine Methode der Ausgrabung geschildert, die sich erstens nicht nur auf Gegenstände, sondern auch auf Erinnerungen bezieht; und die zweitens nicht nur an der Metapher6 der Archäologie entlang geschrieben, sondern (zumindest ansatzweise) an deren Vorgehen selbst geschult ist: Wenn Benjamin von “Ausgrabung”, von “Schichten” und von “Erdreich” spricht, von “archäologischen Berichten” und von “Plänen des Erdreichs”, dann liegt diesem Sprechen unverkennbar die Positivität einer Archäologie zugrunde, die weder nur als Metapher missbraucht wird, noch als ewig unveränderliche Idealvorstellung blind übernommen wird. Selbst wenn sich in dem Denkbild verschiedene Vorstellungen von Archäologie überlagern und teilweise konfliktreich stoßen, werden alle Motive versammelt, die die Bezeichnung Benjamins als eines “Archäologen der Moderne”7 haben gerechtfertigt erscheinen lassen.
Auf engstem Raum werden einige zentrale theoretische und konzeptionelle Motive eingespielt, die den Abschnitt ebenso dicht wie undurchdringlich, ebenso inhaltsvoll wie verwirrend, ebenso benjamintypisch wie kryptisch haben erscheinen lassen. Eben darin, in der verschlungenen Überfülle der auf kürzesten Raum artikulierten Theorien und Konzeptionen, Beobachtungen und Strategien ist Ausgraben und Erinnern ein Denkbild par excellence – eine “theoretische Schreibweise”, wie das Sigrid Weigel etwas irreführend genannt hat, deren reflexiver Gehalt keinesfalls von seiner Niederschrift zu trennen ist.8 Auch wenn Benjamin uns die Lektüre seines überspannten Abschnitts mit seiner Strategie eines reflexiven Blitzkriegs nicht gerade erleichtern mag – eben darin liegt seine unhintergehbare Modernität beschlossen.
Das ist sein Blitzkrieg, der die Geschütze gleichsam verkehrt: Auf weniger als einer Manuskriptseite beschießt Benjamin seine Leser mit einer Gedächtnis- inklusive einer Geschichts-, sowie einer Topographiekonzeption, deutet archäologisch imprägnierte Konzeptionen der Materialität und der Schichten an und lässt es ebensowenig an einer Theorie des Archivs wie der Medien fehlen. Sie sehen sofort: Benjamin haben genau diejenigen Stichworte beschäftigt, die den Kernbereich dessen ausmachen, was heute unter dem Namen Kulturwissenschaft firmiert. Und damit nicht genug. Benjamins Blitzkrieg wird erst durch die Bündelung all dieser Projekte, all dieser theoretischen Bewegungen in einem “archäologischen” Bergungs- oder Entschlüsselungsverfahren entfesselt, das schon wegen seiner Gegenstände den Namen kulturwissenschaftlich verdient. Kurz, Ausgraben und Erinnern ist ein einzigartiges Fundstück in Benjamins mit Einzigartigkeiten nicht gerade geizendem Werk.9 Soweit zunächst einmal zur Würdigung des Denkbildes.
Und nun zu den Schwierigkeiten, die seine Lektüre bereits bei der ersten Annäherung aufgibt. Das erste Problem des Abschnitts besteht nicht allein in den zahlreichen ehrgeizigen Projekten, die Benjamin auf engstem Raum versammelt, sondern darin, dass sie Satz für Satz in unterschiedliche Richtungen weisen. Denn Benjamins Blitzkrieg ähnelt manchem Kulturwissenschaftler auch darin, dass er sich mit jedem Satz gleichsam ein neues theoretisches Terrain erschließt. Diese reflexive Gefräßigkeit ist es zweifellos, die zu jener eigenartigen Ortlosigkeit führt, die dem Text fraglos innewohnt. Zwar ist in dem Abschnitt, angefangen vom Titel und vom ersten bis zum letzten Satz, von Archäologie die Rede. Trotzdem kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass Benjamin nicht auf Archäologisches, sondern auf etwas ganz anderes hinaus will.10 Gegen den Vorwurf einer archäologischen Scharlatanerie, die die Archäologie gleichsam nur als Deckmantel für ein ganz anders geartetes Projekt benutzen könnte, lässt sich jedoch einwenden, dass Benjamins Projekt sich augenscheinlich nur mit der Archäologie artikulieren lässt oder überhaupt nur auf ihrer Folie ans Tageslicht gelangt. Das Archäologische ist hier schon allein deshalb keine reine Metapher, weil die Bedeutung ihrem archäologischen Kleid nicht vorgängig ist. Es handelt sich tatsächlich um ein wie auch immer geartetes archäologisches Projekt, um einen archäologischen Gehalt, von dem sich keinesfalls abstrahieren lässt.

 

II.

Die zweite Schwierigkeit des Abschnitts besteht also in der Tatsache, dass die Archäologie in einer abgewandelten und wenn man so will abgehobenen Form zur Sprache kommt. Archäologie ist hier nicht mehr eine Disziplin, die man definieren muss, sondern wird zu einem Begriff, der sich interpretieren lässt. Man könnte auch sagen, Benjamin bringe den Sinn des Wortes Archäologie ins Gleiten (Bataille) – wofür ihm am allerwenigsten die Archäologen dankbar sein dürften. Doch nicht nur die neue Kombination der titelgebenden Begriffe, auch der Rest des Abschnitts weist darauf hin, dass hier jemand dabei ist, archäologische Begriffe oder Sachverhalte auf eine andere Ebene zu transformieren. Augenscheinlich wird das Projekt verfolgt, aus archäologischen Begriffen eine wie auch immer geartete Methode der “Erkundung des Vergangnen” (GS IV.1, 400) zu destillieren. Das ist die Bewegung des Transfers, der Wissenstransfer, wenn Sie so wollen, der zu der vehementen Verzerrung führt, die man beim ersten Lesen des Abschnitts wahrnimmt – eine Transformation, die weitaus deutlicher und problematischer ist als beispielsweise bei Freud, der die Kenntlichkeit der Archäologie stets noch beibehalten hatte.
Die ganze Schwierigkeit der Lesung des Abschnitts verdankt sich der einfachen Tatsache, dass jedes Wort und jeder Begriff mit einer doppelten Lesbarkeit versehen wird, die jede einfache Lesung vereitelt. Was den Abschnitt so verwirrend macht, ist weniger sein Inhalt, der sich in einer – zugegebenerweise mühevollen – Arbeit in seine Bestandteile zerlegen lässt, sondern vielmehr jene eigenartige Transformationsbewegung, mit der man es offenbar zu tun hat. Die merkwürdige Schwebe alles Archäologischen, ihre eigenartige Ortlosigkeit, verdankt sich weniger den Inkongruenzen und Inkonsistenzen, die der Text tatsächlich aufweisen mag, sondern stellt viel mehr und viel einfacher, den Effekt des Wissenstransfers von Archäologie in Philosophie dar. Kurz, die eigenartige Verzerrung oder Doppelbelichtung der archäologischen Begrifflichkeit ist der Preis, den man für den Wissenstransfer von Archäologie in Philosophie oder von Verfahren in Begriffe zu entrichten hat. Nach dieser Transformation, die jedes Wort auf dunkle Weise verfielfältigt und seine Bedeutungen multipliziert, haben sich alle Fragen nach Benjamins Abschnitt nicht mehr auf die Disziplin der Archäologie zu richten, sondern nach dem Begriff, der aus ihr geschaffen wird.
Tatsächlich ist die Transformation von Archäologie in Philosophie oder Kulturwissenschaft nicht die einzige, mit der man es in Benjamins Denkbild zu tun bekommt.11 Die erste Transformation hatte die beiden Fundorte und Fassungen betroffen, die von der autobiographischen Urfassung der Berliner Chronik zu der publizierbaren und mit einem Titel versehenen Fassung der Denkbilder umgeschrieben wurde. Eine weitere Transformation, die zur gleitenden Schwebe des Denkbilds beiträgt und die weitgehend mit der Umwandlung von Archäologie in Kulturwissenschaft identisch ist, betrifft die Umwandlung von einer Archäologie der Vergangenheit in eine Archäologie des neunzehnten Jahrhunderts oder der Moderne, die Benjamin zwischen Ausgraben und Erinnern und dem Passagen-Werk vornimmt. Benjamins Hauptwerk, das Passagen-Werk wird sich nicht mehr wie das Denkbild einer singulären und unterirdischen Vergangenheit zuwenden, sondern dem oberirdischen und kollektiven Jüngstvergangnen, wie Benjamin sein 19. Jahrhundert nannte. In diesem archäologischen Licht geben sich die Passagen als eine gewaltige Ausgrabungsarbeit zu erkennen, die jedoch nicht mehr das Verborgene und Persönliche, sondern das Kollektive und historisch Sichtbare des 19. Jahrhunderts hervorzubringen trachtete.12
Der Anschluss an Freud verweist auf eine weitere Eigenartigkeit des Abschnitts: Benjamins archäologischster Abschnitt zeigt zunächst seine Verbindlichkeiten weniger gegenüber der Archäologie, sondern gegenüber Freud. Die Archäologie gelangt zu Benjamin weniger durch die Disziplin, als vielmehr durch Freud und dessen Ausgrabungen in den Untiefen der Seele. Das einzige, was seine Archäologie davor bewahrt, eine Fussnote der Freudschen Konzeption zu bleiben, sind die diversen Transformationen und Theorien, mit denen Benjamin seine grundsätzlich Freudsche Archäologie umleitet. Anders gesagt: Benjamins Archäologie ist immer schon vom archäologischen Diskurs durchdrungen. Berührungspunkte mit realer Archäologie sind daher bei ihm Mangelware – eine Tatsache, die sowohl die Abwesenheit archäologischer Quellen, als auch die Überflüssigkeit von deren Suche erklären kann.13
Bereits der titelgebende Kurzschluss Ausgraben und Erinnern liest sich aus einiger Entfernung wie ein Motto der Freudschen Archäologie: Wie Freud beschäftigte sich Benjamin mit alternativen Formen, Geschichte zu schreiben; ebenso wie Freud umtreibt Benjamin das Problem der Darstellbarkeit seiner Gedächtnistheorie.14 Und nicht zuletzt griff Benjamin wie Freud als alternatives Modell für die Darstellung und Modellierung von Gedächtnis und Geschichte auf eine Archäologie zurück, die zuallererst als methodisches Vehikel verwendet wurde – auf eine Archäologie, die nur noch zu einer allgemeinen Kulturtechnik zur Bergung einer materiell überlieferten Vergangenheit transformiert werden musste.
Auch wenn Freud nicht die Erinnerung seiner Patienten als Ausgrabungsarbeit verstand, sondern (weil deren Erinnerung ja gerade verschüttet war) die Analyse des Therapeuten – verschüttet ist auch das Objekt, nach dem Benjamin sucht. Unmissverständlich wird das Denkbild als Fortführung der Archäologie Freuds positioniert – und das, obwohl es verwundern mag, dass hier nicht mehr einzelne Gegenstände oder Gebäude ausgegraben werden sollen, sondern wie im Beispiel des Passagen-Werks mit dem Paris des 19. Jahrhunderts gleich eine ganze Stadt. Doch im Gegensatz zu den Passagen, wo das Unbewusste nicht länger unsichtbar unter der Erdoberfläche logiert, sondern in der Sichtbarkeit einer Architektur, bestimmt Benjamin im Denkbild die Archäologie noch wie Freud als eine Wissenschaft, die für das Verborgene zuständig ist.
Die Ausgrabung einer verdrängten Erinnerung, die bereits im Titel anklingt, ist die erste These, die Benjamin direkt von Freud übernimmt – und zugleich der schwächste Punkt in dessen Denkbild. Nicht ohne Grund wird er in den Passagen dazu gelangen, das Unbewusste vehement zu positivieren und es nicht mehr in den blinden Abgründen eines diffusen “Erdreichs”, sondern in der Sichtbarkeit von Medien, Techniken und Architekturen zu suchen. Benjamin war nicht entgangen, dass diejenige Theorie der Verdrängung von zahlreichen zeitgenössischen Theoretikern bestritten wurde, die die Bedingung für die Ausgrabbarkeit des Unbewussten dargestellt hatte. Im Anschluss an diese Kritik wird das unsichtbare Verdrängte durch ein sortiert Gelagertes ersetzt; das Unbewusste wird nicht mehr Hegelianisch “aufgehoben” und damit dem Verschwinden anheim gestellt, sondern nur noch “deponiert”.15 In der Tat verlangte ein Unbewusstes, das nicht mehr unter der Erde des Bewusstseins im Koma liegt, sondern nur noch an bestimmten Orten vor sich hinschlummert, eine andere Theorie und eine andere Praxis der Bergung, die, man rät es, Passagen-Werk heißt.

 

III.

Was jedoch neben der Arbeit der Positivierung des Unbewussten vor allem eine Differenzierung von Freud erlaubt, ist jene auf den ersten Blick kryptische Rede von jenem “Erdreich”, das versunkene Städte bergen soll. Tatsächlich offenbart sich in diesem dunklen Terminus Benjamins größte Hellsichtigkeit. An diesem ungestalten Wortklumpen überrascht vor allem, dass Benjamin das “Erdreich” überhaupt zum Gegenstand seines Satzes und damit des Wissens erhebt – und nicht jene “alten Städte”, die in ihm “verschüttet liegen”, wie man dies von jedem Angehörigen der “Wissenschaft des Spatens” hätte erwarten dürfen. Die konsequente Einbeziehung des “Erdreichs” – so amorph und undifferenziert sich dies zunächst ausnehmen mag – zeugt von einer veränderten Auffassung von Archäologie, die sich in abweichenden Konzeptionen von Gedächtnis und Erinnerung niederschlägt. Denn während die literaturwissenschaftliche Analyse eine weitgehende Homogenität der archäologischen Projekte Freuds und Benjamins konstatieren muss, ergeben sich aus der wissenschaftshistorischen Differenzierung diverse Unterschiede.
Tatsächlich wird die Bedeutung von Benjamins Einführung des “Erdreichs” erst auf dem wissenshistorischen Hintergrund einer Archäologie sichtbar, die im 20. Jahrhundert begann, auch die Spuren mit zu berücksichtigen, die ein Fundstück im Erdboden hinterließ.16 Auch wenn das undifferenzierte “Erdreich” auf den ersten Blick genau auf das Gegenteil, nämlich auf eine Entdifferenzierung hinweist, mit der Benjamin noch hinter Freud zurückzufallen scheint, besteht die Möglichkeitsbedingung dieser Rede in einer beginnenden stratigraphischen Forschung, deren Geschäft genau dies ist: Das “Erdreich” – und nicht etwa nur den Ausgrabungsgegenstand – als “Medium” zu analysieren, wie Benjamin in wohl unbewusstem Einklang mit der Geschichte der Archäologie seines Jahrhunderts schreibt. Indem er den Erdboden als Medium und Träger des Wissens entdeckt, durchbricht er eine der Mauern, die die Archäologie des 19. Jahrhunderts von der des 20. Jahrhunderts trennt: Einzig und allein aus dem Grund der Entdeckung der Wissenslagerung und Speicherfähigkeit des Erdbodens vermag Benjamin das Erdreich als “Medium des Erlebten” anzuschreiben. “Der behutsame, tastende Spatenstich”, von dem Benjamin spricht, ist ja nicht deswegen “unerläßlich”, weil er die Schätze entbirgt, die im “dunklen Erdreich” verborgen liegen, sondern weil nur der Prozess der Grabung Aufschluss über die Schichten und damit letzten Endes auch über deren Schätze geben kann.
Das Wissen, das vom Erdreich gespeichert wird, ist 1932 also kein objekthaftes mehr wie die Artefakte, die in ihm gefunden werden. Stattdessen ist es ein Wissen von “Ort und Stelle”, an dem sie sich befinden. Unverkennbar stellt Benjamins Rekurs auf die topographischen Koordinaten des Fundstückes einen Effekt der weitgehenden Dekontextualisierung des ausgegrabenen Objektes dar, die Benjamin aus der Praxis der Archäologie übernimmt: Das “Erdreich” kann erst in dem Moment als rettendes Medium in Erscheinung treten, in dem ein Objekt aus sich selbst heraus keine hinreichenden Informationen enthält, kurz: das archäologische Objekt muss “losgebrochen aus allen früheren Zusammenhängen” (GS IV 400), es muss dekontextualisiert sein, wie Benjamin schreibt, damit der umgebende Erdboden anstelle des Objektes zu sprechen beginnen kann.17 Kurz, das Wissen, das ein Fundstück aus der Vergangenheit überliefern kann, ist von seinem Ort abhängig, jedes dekontextualisierte Wissen ist radikal ortsgebunden – und Benjamin lässt mit seiner Insistenz auf das Herausgebrochensein der Vergangenheit keinen Zweifel an der Einsicht, dass jedes Objekt, auch das historische, in einem Zustand radikaler Dekontextualisierung aufgefunden wird. Diese Verbindung des Alten zu einem aktuellen Pol, dem “heutigen Boden” (GS IV.1, 400) wird es auch sein, die die Neuheit von Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, also dem Passagen-Werk ausmachen wird. Einige Jahre bevor Foucault diesen zugleich aktuellen und historischen Boden jedes Zeichens zum epistemologischen Fluchtpunkt seiner Archäologie machen wird, unternimmt Benjamin in seiner dreidimensionalen Topologie des Denkbilds den Versuch einer topographischen und wenn man so will stratigraphischen Rekonstruktion von Geschichte.
Im Fortgang des Abschnitts kommt Benjamin dazu, seinen in der Tat etwas grobschlächtigen Begriff des Erdreichs in ein differenzierteres Schichtenmodell zu überführen: Dort wird nicht mehr vom “Erdreich” gesprochen, sondern von den “Schichten”, die plötzlich als autonomes Objekt des Wissens auftauchen: “Denn ‚Sachverhalte‘ sind nicht mehr als Schichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, um dessentwillen sich die Grabung lohnt.” (GS IV 400) Benjamin bestimmt also nicht nur die Grabung als selbstbezügliches Unternehmen, auch die archäologische Schicht ist an dieser Stelle schon reflexiv, womit eine der wesentlichen Grundannahmen der Stratigraphie in die Theorie der Geschichte übernommen wird.18
Dieser Befund wird von der ursprünglichen Fassung in der Berliner Chronik gestützt, die davon spricht, dass “Sachverhalte” nur “Lagerungen, Schichten” (GS VI 486) seien. Wenn das Objekt des Wissens gleichbedeutend ist mit seiner Lagerung, dann ist seine Erforschung identisch mit der Analyse seiner Archive – und wenn die Lagerung des Objektes wiederum den Schichten entspricht, dann ist sein Wissen Stratigraphie. So weit war Freud in der Tat noch nicht. Auch wenn er bereits die Umgebung seines “pathogenen Materials” betrachtet hatte, war er weder zu einer Ausdifferenzierung eines “Erdreichs” gekommen, noch hatte er dieses in einem Modell von Schichten angeschrieben, die sich als solche von dem Fundmaterial unterschieden und es gleichsam umhüllen. Freuds Schichten, denen das Modell Troja zugrunde gelegen hatte, bestanden unmittelbar aus dem aufgefundenen pathogenen Material, es hatte bei ihm noch keinen Hinweis auf die Entdeckung der Speicherfähigkeit des Erdbodens gegeben. Kurz, Freud hatte noch keinen Begriff von einem “Erdreich” entwickelt und war noch ein Stück weit davon entfernt, ihm den Status eines Mediums zuzugestehen, in dessen Materialität ein Wissen über die Vergangenheit hinterlegt ist.

 

IV.

Die versteckte Reflexivität und Medialität von Benjamins Erdreich kommt jedoch nicht von ungefähr. Ebenso wie sich das Wissen des Erdreichs in dessen anti-modernistischer Grobschlächtigkeit verbirgt, sind in Benjamins Denkbild moderne Medien und Techniken der Archäologie verschanzt. Allein der “Plan”, nach dem vorzugehen Benjamin der Grabung empfielt, wie auch der “gute archäologische Bericht” positivieren und imprägnieren auf hintergründige Weise den gesamten Abschnitt. Zunächst zu letzterem. An Benjamins archäologischem Rhapsoden, der “zugleich [ein Bild] von dem der sich erinnert geben [muss], wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene andern vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren” (GS IV 401), überrascht vor allem die Simultanität zweier Elemente: die Durchstoßung und deren Dokumentation.
Während beispielsweise Schliemann tatsächlich zunächst alle anderen Schichten “durchstieß”, um auf den berühmten “Urboden” Trojas zu kommen, gelangte erst die beginnende Stratigraphie dazu, die durchstoßenen Schichten auch als solche zu dokumentieren. Allein die Tatsache, dass Benjamin den “guten archäologischen Bericht” in seiner Medialität anerkennt – und die Tatsache, dass dieser Bericht auch noch an die Dokumentation der Schichten gekoppelt wird –, verweist auf die unbedingte Modernität seiner Archäologie, die sich in rückständigen Begriffen verbirgt. Das “Erdreich” ist bei Benjamin also nicht nur deshalb Medium, weil es gleichsam die “alten Städte” birgt, die anschließend entborgen werden; es ist anzunehmen, dass Benjamin die “Schichten” nur aus dem Grund als Wissen anzuschreiben vermochte, weil ihm mit dem “archäologischen Bericht” ein Medium zu deren Dokumentation vorgelegen hatte.19
Der “gute archäologische Bericht” hat aber durchaus noch weitreichendere Folgen für Benjamins Denkbild, als nur dessen Medialität und Modernität zu bezeugen. Schließlich ist es in Ausgraben und Erinnern eine durchgängig mediatisierte Schicht, die als Begründung des Bruchs mit der historischen Narration herangezogen wird. Die Differenz zwischen Bericht und Erzählung liegt auf der Hand: Während die historische Erzählung immer in der Tiefe, beim Ältesten beginnt, geht der Grabungsbericht genau in entgegengesetzter Richtung vor: Um in die Tiefe der Vergangenheit zu gelangen, muss man zunächst die jüngeren, aktuelleren Schichten “durchstoßen”, wie Benjamin schreibt. Darin verstößt die historische Erzählung gegen die stratigraphische Ordnung, dass sie eben nicht “wie ein guter archäologischer Bericht” die Schichten angibt, “aus denen seine Fundobjekte stammen (…), sondern jene andern vor allem [vergisst], die vorher zu durchstoßen waren.” (Hervorhebung von KE) Und diese andern vor allem, die aktuellen Schichten, die erst die Sicht auf die Vergangenheit eröffnen und gleichsam ihre Möglichkeitsbedingung darstellen, sind es offenbar, auf die es Benjamin besonders ankommen wird.
Hier wird spätestens deutlich, dass Benjamin ebenso wie Freud – und übrigens auch schon wie Kant – Geschichte und Archäologie gegeneinander ausspielt. In der Fassung der Berliner Chronik hatte Benjamin geschrieben, dass “die Erinnerung nicht erzählend, noch viel weniger berichtend vorgehn” (GS VI 487) solle. Diese Formulierung kehrt in den Denkbildern in der Formel wieder, dass “wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren [müssen]” (GS IV 400) – eine Formel, die in ihrer Entschiedenheit erstaunlicherweise an Kants Diktum erinnert, dass eine “philosophische Geschichte der Philosophie”, also die archäologische, nicht narrativ verfahren dürfe (vgl.). Die Archäologie liefert also wie bei Freud und Kant ein alternatives Modell zur Geschichte, das nicht dieselben Fehler macht wie diese. Diese Fehler bestehen in erster Linie in der narrativen Ordnung der Geschichte, die durch die topographische Ordnung der Archäologie ersetzt werden soll.
Nach dem Erdreich als Medium und dem Medium des “archäologischen Berichts” wird ein weiteres Medium der Erschließung des Erdbodens in Benjamins Denkbild eingeführt: ein Plan, nach dem die Grabung vorgehen soll: “Und gewiß ist’s nützlich, beim Graben nach Plänen vorzugehen. Doch ebenso ist unerläßlich der behutsame, tastende Spatenstich in’s dunkle Erdreich.” (GS IV 400) Gerade was die hier eingeführten “Pläne” des Erdreichs anbetrifft, liegt eine Verbindung in die Wissensschafts- und Mediengeschichte der Archäologie nahe. Sie kann möglicherweise Aufschluss über die Frage geben, um welche Art von Plänen es sich an dieser Stelle handelt – um Pläne von Gebieten, von Erdreichen oder von Fundstücken; um horizontale topographische oder um vertikale stratigraphische Pläne; um Pläne, die von der Oberfläche aus angefertigt werden oder um Profile, die die Tiefe verzeichnen.
Auch wenn ein Wissen Benjamins von den planungstechnischen Entwicklungen der Archäologie seiner Zeit weitgehend auszuschließen ist – der berühmteste Plan zumindest im deutschsprachigen Raum war zu dieser Zeit immer noch der von Schliemann 1881 in seiner Ilios publizierte – mag eine parallele Entwicklung in der Archäologie zumindest überraschen. 1929, also unmittelbar bevor Benjamin sein Denkbild niederschrieb, begann Sir Mortimer Wheeler20, die Erde in Sektionen zu unterteilen und diese Teile anzuschreiben – also die ersten veritablen “Pläne” nicht der Ausgrabung, sondern des Erdreichs herzustellen. 1934, als Benjamin sich gerade von seinem Denkbild wieder dem Passagen-Werk zugewandt hatte, lagen mit der Ausgrabung von Maiden Castle die ersten wirklich detaillierten “Pläne” des Erdreichs vor, die die Schichten nicht nur als historische Schichten aufzählten und numerierten, sondern auch als archäologische verzeichneten (Wheeler 1943: fig.10; vgl. Harris 10).
Auch wenn Wheelers rationalistisches Modell keineswegs mit Benjamins anti-modernistischer Konzeption des Gedächtnisses zusammenstimmen mag, auch wenn Benjamins Begriff eher auf eine Entdifferenzierung des Erdreichs hinzuweisen scheint, vermag allein die Koinzidenz zweier Entwicklungen an zwei völlig verschiedenen Ortes des Wissens in Erstaunen zu versetzen. Liest man in Benjamins Satz vom “Erdreich” also nicht negativ hinterlegte Intentionen ihres Autors, über die sich nur mutmaßen lässt, sondern die Positivität einer Wissenschaftsgeschichte, die schlicht vorliegt, so lassen sich möglicherweise verschiedenen Verfahren der Grabung jeweils unterschiedliche Weisen der Erinnerung zuordnen – jedes Verfahren der Ausgrabung oder der Durchleuchtung des Erdbodens produziert ein Verfahren der Geschichtsschreibung, wenn nicht eine Geschichte.

 

V.

Aber keine Angst – ich habe nicht vor, hier eine Mediengeschichte der Archäologie zu entsichern. Diese würde vermutlich die gesamte Geschichte der Grabung inklusive Benjamins Denkbild nach spezifischen Verfahren der Sondierung des Erdbodens sortieren, und in ihrem grellen Licht Benjamins Sammler, der bislang im vornehmen Dämmerlicht der Literaturwissenschaft gedeutet wurde, als knallharten Archäoprognostiker erscheinen lassen. Stattdessen möchte ich noch auf eine andere Stelle bei Benjamin hinweisen, an der es “in die Tiefe geht” – nämlich auf das schon mehrfach erwähnte Passagen-Werk, an dem Benjamin mehr als die letzten zehn Jahre seines Lebens, von 1928 bis 1940 arbeitete. Auch wenn Archäologie dort ebensowenig explizit auftaucht wie in Benjamins restlichem Werk, so existieren doch zahlreiche Hinweise darauf, dass das Passagen-Werk als Archäologie – oder eben als Urgeschichte – einer Epoche verstanden werden kann, der mit historiographischen Mitteln nicht mehr beizukommen war. Die Abwesenheit von Archäologie ließe sich hier mit den gewaltigen konzeptuellen Umbauarbeiten erklären, deren es bedurft hatte, um ein Verfahren zur Bergung der Vergangenheit in eine Technik der Sicherung der Gegenwart des 19. Jahrhunderts zu transformieren. Spuren dieser Umbauarbeiten sind im Passagen-Werk gleichwohl noch vorhanden – und das eigenartigerweise weniger an den Stellen, in denen Benjamin maulwurfsgleich im Untergrund von Paris herumwühlt, in den Metroschächten und Katakomben von Paris, in denen er aber nicht Vergangenheit, sondern radikale mediale Gegenwart in Form der ersten Dunkelkammern antrifft. Archäologische Spuren finden sich in den Passagen eher an den Stellen, die am allerwenigsten mit einem archäologischen Verfahren in Zusammenhang gebracht werden können.
Die Schichtenkonzeption beispielsweise – ich beziehe mich im folgenden nur auf diese – taucht ausgerechnet in den Studien zu Charles Baudelaire wieder auf. Dieser soll nämlich von den Passagen gezeigt werden, “wie er ins neunzehnte Jahrhundert eingebettet liegt. Der Abdruck, den er darin hinterlassen hat, muß so klar und unberührt hervortreten wie der eines Steines, den man, nachdem er jahrzehntelang an seinem Platz geruht hat, eines Tages von seiner Stelle wälzt.” (GS V.1, 405) Das archäologische Bild wird bereits zur epistemischen Anordnung, wenn Benjamin bei Baudelaire von einer “Hohlform” berichtet, “die für ein Wissen bereitgestellt ist, das nicht das seine war.” (GS V.1, 406) In derselben Weise wie das Wissen bei Baudelaire werden auch die Passagen als Fossilie zu einer Art “Hohlform, aus der das Bild der ‚Moderne‘ gegossen wurde.” (GS V.2, 678) Dieses Zeigen einer in Hohlformen und Schichten angeordneten Ge-Schichte wird von Benjamin immerhin so ernst genommen, dass er im Passagen-Projekt einer synchronen Anordnung der Geschichte den Vorzug vor ihrer geläufigen Diachronizität erteilt: Dort werden keine vertikalen Verläufe von verschiedenen Geschichten gezeigt, sondern eine Schicht aus dieser Geschichte herauspräpariert und anschließend horizontal ausgefaltet. Die Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts ist also durchaus als Schnitt durch das 19. Jahrhundert zu verstehen – als ein archäologischer Schnitt durch eine weniger geschichtliche als geschichtete Zeit, der so unterschiedliche und heterogene Elemente wie Mode und Katakomben, Eisenbahnen und Kaufhäuser, Beleuchtungsarten und Puppenhäuser, Börsenspekulation und Prostitution (um nur einige zu nennen) nebeneinander aufreiht. Um diesen radikalen Schnitt zu erklären, der sicher den folgenreichsten Ertrag von Benjamins Hauptwerk darstellt, liegt es in der Tat näher, die Vorlage dieser herauspräparierten Schicht in jenen anti-modernen Schaugrabungen und Archäologieparks der zwanziger und dreißiger Jahre zu suchen, in denen sich Benjamin beispielsweise bei seinen Besuchen von Herculaneum vergnügte und in denen ebenfalls nur eine einzige Schicht begehbar gemacht wurde, als in Wheelers rationalistischen Ausschachtungen, die er aller Wahrscheinlichkeit nach nie vor Augen hatte. Trifft diese Hypothese zu, wäre bewiesen, dass ein archäologisch rückschrittliches Verfahren in einem anderen Bereich durchaus progressive Folgen zeitigen könnte.
Das Passagen-Werk lässt sich jedoch nicht nur als eine gigantische Archäologie des 19. Jahrhunderts lesen. Es ist auch im Umkreis der Passagen, dass Benjamin die Theorie des Gedächtnisses nachliefert, die er im Denkbild skizziert hatte.21 Während diese Theorie bereits um 1930 entwickelt wurde (Weigel 1997:28) und sich 1932 im Denkbild niederschlägt, gelangt sie in geschlossener Form erst mit Benjamins zweitem Baudelaire-Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire von 1938 zum Einsatz. In diesem von Adorno gefeierten und schließlich in der Zeitschrift für Sozialforschung publizierten Text entwickelt Benjamin eine Theorie des Gedächtnisses, die mit seinem etwa fünf Jahre früher entstandenden Denkbild korrespondiert. Die Korrespondenz zu Ausgraben und Erinnern besteht jedoch nicht allein in dem Konzept des Gedächtnisses, das für beide Texte zentral ist; in Über einige Motive bei Baudelaire bezieht sich Benjamin bei der Ausführung dieser Konzeption erstmals explizit auf Freud, dessen Analogie von Analytiker und Ausgräber auch dem Denkbild zugrunde gelegen hatte.
Im Aufsatz über Baudelaire von 1938 gelangt Benjamin nach einer Lektüre von Freuds Jenseits des Lustprinzips zu einer Unterscheidung zwischen zwei Agenten der Vergangenheit: zwischen einer kurzzeitigen und destruktiven Erinnerung und einem konservierenden und bergenden Gedächtnis. In der Tat lässt sich die auf Proust und Bergson zurückgehende Unterscheidung zwischen Erinnerung und Gedächtnis auch schon im Denkbild wiederfinden: Dort ist das Gedächtnis dasjenige “um dessentwillen sich die Grabung lohnt. Die Bilder nämlich, welche, losgebrochen aus allen früheren Zusammenhängen, als Kostbarkeiten in den [und jetzt kommt die Erinnerung ins Spiel] nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht – wie Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen.” (GS IV.1, 400) Bei der Frage nach der Herkunft von Benjamins Unterscheidung zwischen Erinnerung und Gedächtnis scheint es naheliegend, dass der Pate des konservierenden Gedächtnisses in jenen dekontextualisierten Kostbarkeiten aus Ausgraben und Erinnern besteht. Für jene destruktive Erinnerung könnten andererseits jene ebenfalls archäologischen Stellen Freuds eine Rolle gespielt haben, die nicht von einer aufgehenden Dialektik zwischen Ausgraben und Erinnern, sondern von einer weniger heilvolleren Dialektik zwischen Ausgraben und Zerstören berichten – die beispielsweise davon handeln, dass “die Verschüttung [der pompejanischen Grabfunde] für sie die Erhaltung bedeutet [habe]”, wie Freud in der berühmten Analyse des Wolfsmanns geschrieben hatte.22
Damit ist man zugleich bei der verborgensten und auch unwahrscheinlichsten Spur angelangt. Schließlich kommt die destruktive Figur einer Transposition, der Ersetzung von etwas durch etwas anderes, beispielsweise die Zerstörung und Ersetzung eines Fundes durch seine medialen Agenten im Moment seiner Entbergung, nicht nur als theoretische Figur bei Freud vor. Die Transposition ist auch praktische Realität in der Grabungsarchäologie. In der Bergung eines Materials, das nach seiner Sicherung nicht mehr dasselbe ist wie vorher, hätte man gewissermaßen das Urbild eines Vorgangs vorliegen, bei dem regelmäßig etwas Neues an der Stelle von etwas Altem entsteht, das sich aber als getreue Übersetzung ausgibt – sei dies nun der archäologische Befund an der Stelle des Vergrabenen oder das Bewusstsein an der Stelle der Erinnerungsspur wie bei Freud. Bei der Menge der diskontinuierlichen Motive, die sowohl bei Benjamin (als auch später bei Foucault) jeden kohärenten Text der Geschichte zerreißen, stellt sich in der Tat die Frage, ob die diversen Figuren der Unterbrechung des Geschichtskontinuums sich nicht archäologisch positivieren lassen: Handelt es sich bei den Zerstörungen und Zersetzungen jedes kontinuierlichen Modells von Geschichte um Ausschreibungen jener archäologischen Urszene, die in der Zerstörung des Fundes im Moment seiner Bergung besteht? Es wird niemanden verwundern, wenn ich es für eher unwahrscheinlich halte, dass es sich bei der Einführung diskontinuierlicher Modelle in die Geschichte ausgerechnet im Zeichen der Archäologie um einen Zufall handelt.
Doch ebensowenig abwegig wie eine zufällige Konvergenz zwischen Transposition und Archäologie ist die Annahme, dass Benjamin sein Geschichtsmodell unmittelbar an der Archäologie abgelernt hätte. Es ist wahrscheinlicher, dass die Figur der Transposition an einer anderen Stelle aufgenommen und entwickelt wurde als an der Archäologie – und zwar durch die Medien. Ebenso wie diverse zeitgenössische Denker gelangt auch Benjamin von der Archäologie zur Medien-Archäologie – und zwar dergestalt, dass die archäologische Figur der Transposition vor allem an der medialen Umwelt entwickelt und durchgespielt wird. Kurz, es sind die Medien, die für die Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung verantwortlich sind; die Medien – jene “nüchternen Gemächer unserer späten Einsicht” – sorgen für jene zerstückelte Aufbewahrung der Vergangenheit, wie sie Benjamin mit seiner Konzeption der Erinnerung beschreibt.
Von dieser ambulanten und gewissermaßen nur zwischengespeicherten Vergangenheit unterscheidet sich Benjamins Gedächtnis dadurch, dass es unausgegraben “in der Tiefe der Zeit” (BB 142) vor sich hin schlummert. Die Kostbarkeiten des Gedächtnisses sind geschichtslos (BB 138); technisch gesprochen: Der “tödliche” (BB 142) Griff der Medien und Archive hat sie noch nicht erfasst. “Wenn man das Unterscheidende an den Bildern, die aus der mémoire involontaire auftauchen, darin sieht, daß sie eine Aura haben, so hat die Photographie an dem Phänomen eines ‚Verfalls der Aura‘ entscheidend teil.” (BB 142)
Das Paradox von Benjamins Theorie des Gedächtnis lautet also folgendermaßen: Ausgraben lässt sich nur, was in den Tiefen des Gedächtnisses unmediatisiert schlummert – sonst hätte Benjamin nicht von den “Funden der mémoire involontaire” (BB 143) gesprochen, wie er im Anklang an Proust schreibt. Doch ist der Fund gefunden, ist er technisch zum Befund und medial zum Bild geworden, hat er seine Aura verloren und ist in die “nüchternen Gemächer unserer späten Einsicht” übergewandert, von denen er im Denkbild berichtet hatte. Kurz, entweder haben wir einen Gegenstand in den von Baudelaire erwähnten “Archiven unseres Gedächtnisses” (BB 141), in den “nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht” oder wir haben ihn überhaupt nicht.

 

VI.

Man sieht bereits, dass weder Archäologen noch Philosophen oder Kulturwissenschaftler das Problem einer zwischen Zerstörung und Unzugänglichkeit eingekeilten Vergangenheit auf angemessene Weise zu lösen vermögen. Daher sind es bei Benjamin die Dichter – aber die archäologischen, so könnte man sagen –, die der Vergangenheit eine angemessene Form zu geben vermögen. Kurz, der dritte Ausgräber nach Freud und Benjamin ist niemand anders als Proust. Proust gräbt in der Darstellung Benjamins jedoch nicht wie Freud Traumata aus, sondern holt die “Monumente und Bilder” (BB 143) hervor, von denen Proust in der Recherche und Benjamin in seinem Denkbild gesprochen hatte. Der “restaurative Wille” (BB 136) Prousts hole sie aus Tiefen hervor, die nicht mehr solche der Zeit sein müssen; im Gegenteil. Der Duft des Frühlings beispielsweise, den Proust bei Benjamin ausgraben darf (und den auch wir dieser Tage ganz gern ausgraben würden) – “Ein Duft läßt Jahre in dem Dufte, den er erinnert, untergehen” (BB 137) – ein Geruch markiert sich nicht in der Zeit, sondern gerade in ihrer Überwindung.
Damit ist gesagt, dass derjenige, der sich auf die berühmte Suche nach der verlorenen Zeit macht, niemand anders ist als ein Archäologe; der Sucher der temps perdu, der Dichter des vielleicht wichtigsten Werks des Jahrhunderts ist ein Ausgräber. Der Ausgräber der verlorenen Zeit hebt die im Gedächtnis gefangenen Eindrücke ans Licht.23 Und wie Proust bekräftigt, komme es bei diesem magischen Vorgang, der bei ihm bekanntlich weniger durch Ausgrabungstechnik als durch Buttergebäck bewerkstelligt wird, weniger auf die geborgene Vergangenheit als auf die bergende Gegenwart an. Insofern ist es folgerichtig, wenn sich die Archäologie Prousts nicht an einem Ort der Vergangenheit befindet, sondern in einer allzu gegenwärtigen Beschreibung der “Nächte tiefen Schlafs nach großer Ermüdung”: “Il n’y a pas besoin de voyager pour le revoir, il faut descendre pour le retrouver. Ce qui a couvert la terre, n’est plus sur elle, mais dessous, l’excursion ne suffit pas pour visiter la ville morte, les fouilles sont nécessaires.” (GS V.1, 509) Man solle also nicht “Stätten aufsuchen, an denen man Kind war”, wie Benjamin Proust deutet, sondern man solle das Verborgene der Kindheit im Hier und Jetzt, im “heutigen Boden”, wenn man so will, aufsuchen; nicht im horizontalen Raum der Erdoberfläche solle man reisen, sondern sich lotrecht in die Vergangenheit hinabgraben – und mag das Hilfsmittel dieser süßesten aller Archäologien auch nur in einer Madeleine bestehen.

 

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Anmerkungen

1Zu den Publikationsumständen dieser Textstücke vgl. GS IV.2, 987-1015. Zur Herausgebertätigkeit Adornos, der den Abschnitt als Denkbild erstmals 1955 im Rahmen der Schriften publizierte, vgl. GS IV.2, 883. Sowie Leifeld 2000. etc.
2 Allein die auf Gershom Scholem (GS V.2, 886) zurückgehende Abfolge der Textstücke lässt einen Schluss auf das Jahr 1932 zu.
3Bekanntlich stellen die Publikationsorte, Berliner Chronik und Berliner Kindheit, zwei Varianten oder zwei Schriften derselben Vergangenheit dar: In der Chronik verfolgte Benjamin noch das Projekt einer Autobiographie, in der seine Kindheitserinnerungen direkt und unverstellt zur Sprache kommen sollten. Entsprechend ist in der (titellosen) Fassung von Ausgraben und Erinnern in der Chronik noch von der “Haltung echter Erinnerung” (GS VI 486) die Rede – eine Rede freilich, die in der Fassung der Denkbilder verworfen wird. Dort wird das Projekt einer authentischen Mitteilung der Vergangenheit durch die dichterische Gestaltung von einigen lebendigen Erinnerungen ersetzt, die später als Berliner Kindheit publiziert werden sollten – die dann auch ohne das Denkbild erscheinen (Vgl. Witte 1984:18). Bezüglich dieser Umformung seiner Kindheitserinnerungen bemerkte Benjamin gegenüber Scholem, dass die neue Form “keineswegs chronistisch erzählen, sondern einzelne Expeditionen in die Tiefe der Erinnerung darstellen.” Benjamin 1980:28. An einer anderen Stelle (GS II 1064) wird diese Tiefe als Tod lesbar (vgl. Witte 1984:18). Scholem (GS VI 797) seinerseits merkt zu der Zäsur an, dass “Benjamin sich entschloß, statt unmittelbar autobiographischer Aufzeichnungen über Erinnerungen und Vorgänge seiner Kindheit, Schul- und Studentenzeit sich auf Erinnerungen, aber dichterisch und literarisch verwandelte, zu beschränken. Der Unterschied zwischen den beiden Versionen ist daher sehr bedeutend.”
4Vgl. GS VI 805. Scholem (GS VI 797) spricht von einer Niederschrift “stückweise und zum Teil in außerordentlich schneller und schwer lesbarer Schrift.” Und der Herausgeber schickt hinterher: Die Berliner Chronik sei eine erste Niederschrift, die keinen durchgehenden Text bildet, vielmehr aus einzelnen, gegeneinander mehr oder weniger unabhängigen Stücken besteht. ” GS VI 805
5Bei der Frage, ob Ausgraben und Erinnern eher der Seite der autobiographischen Schriften zuzuschlagen ist, der das Denkbild ja auch entstammt oder bereits den Passagen, scheiden sich auch die Geister der Forschung. Weigel, Leifeld, Fürnkäs.
6Weigel (1997:29) droht die Archäologie auf eine Metapher zu reduzieren, wenn sie davon spricht, dass die Bildlichkeit von Ausgraben und Erinnern der Archäologie entstamme. Es ist weniger die “Bildlichkeit” der “Allegorie”, die “ein Schichtenmodell assoziiert”, wie Weigel (1997:30) meint – die Archäologie versorgt Benjamin (via Freud) zuallererst mit einem Schichtmodell, das sich bildhaft im Denkbild niederschlägt.
7Marc Sagnol, etc.
8Das scheint auch der Grund zu sein, weshalb dem Denkbild von verschiedenen Forschungen ein zentraler Status eingeräumt worden ist. Vgl. Weigel 1997 und Leifeld 2000.
9Daher der zentrale Status, der dem Denkbild von seinen Interpreten eingeräumt wurde (Weigel 1997:27ff; Fürnkäs; Leifeld).
10Bei der Fülle an archäologischem Material, das Benjamin in sein Denkbild einfließen lässt, überrascht die Tatsache, dass er an keiner Stelle seines Werkes oder seiner Aufzeichnungen explizit auf archäologische Quellen eingeht. Auch sein Verzeichnis der gelesenen Schriften (GS VII.1, 437-477) verweist auf keinerlei nennenswerte Lektüre archäologischer Fachliteratur.
11Zusätzlich zu den erwähnten Transformationen wird von Weigel (1997:30) die Umstellung von einem topographischen auf ein Schriftmodell, vom “Bild des Schauplatzes in ein geschriebenes Bild” angeführt.
12Vgl. Weigel 1997. Benjamins methodische Umstellung von der singulären zur kollektiven Vergangenheit legt die Annahme nahe, dass er den prominentesten Part von Freuds Analogie, Das Unbehagen in der Kultur von 1930, bei der Niederschrift von Ausgraben und Erinnern 1932 vor Augen gehabt haben dürfte: 1930 ist die Ausgrabungstätigkeit nicht mehr nur das Modell für die Suche nach der Vergangenheit des Einzelwesens, wie in der Frühzeit der Freudschen Archäologie, sondern eines für die Theorie einer gesamten Kultur.
13Gestützt wird dieser Befund durch den Umstand, dass Benjamins intensivste Freud-Rezeption in die Jahre um 1930 fällt, als zwischen den ersten Notizen zu den Passagen (1927-1929) und der Wiederaufnahme des Projektes ab 1934 sein Gedächtniskonzept inklusive des archäologischen Denkbilds entsteht. Diese Konstellation zwischen Benjamin und Freud wird insbesondere von Weigel (1997:20) unterstrichen. Als gemeinsame Motive werden Traumstruktur, topographischische Struktur des Gedächtnisses und die Dialektik zwischen Bewusstem und Unbewusstem genannt. Zur Schwierigkeit der Rekonstruktion von Benjamins Freud-Lektüre vgl. Weigel 1997:36.
14Weigel (1997:28) erwähnt neben der archäologischen Darstellungsweise des Gedächtnisses Optik und topographische Vorstellungen, Stammbaum und Labyrinth (30) als bevorzugte Darstellungsmodi Benjamins. Bei der Frage nach den Darstellungen stellt sich unweigerlich die Frage nach deren illustrativen Charakter. Weigel (1997:30) droht das Denkbild auf eine Illustration zu reduzieren, wenn sie davon spricht, dass Benjamin seine Gedächtnistheorie an einem “Darstellungsversuch” erprobe. Es stellt sich hier die Frage, weshalb die Topographie im Denkbild illustrativ sein soll, die der Passagen aber als Vorgängiges aufgefunden wird (Weigel 1997:32).
15“Die späteren Forschungen Freuds machten es ersichtlich, daß diese Auffassung [sc die von der Verdrängung] erweitert werden mußte… Der Verdrängungsmechanismus… ist… ein Spezialfall des bedeutungsvolleren Vorganges, der eintritt, wenn unser Ich bestimmte Anforderungen an den seelischen Apparat nicht adäquat bewältigen kann. Der allgemeinere Abwehrvorgang hebt die starken Eindrücke nicht auf; er deponiert sie nur.” Bei Benjamin GS V.1, 507.
16Zur Schatzsuche der Archäologie vgl. Harris 1989:15f.
17Auf diese Speicherung der Vergangenheit weist ein Zusatz hin, den Benjamin dem letzten Satz in der Chronik beigefügt hatte, wo er von dem “dunklen Glück von Ort und Stelle des Findens” spricht, das sich “in seiner Niederschrift bewahrt” habe (GS VI 486; Hervorhebung von K.E.).
18“Archaeological stratification (…) is an irreversible process. Once a unit of stratification – either layer or interface – is formed, it is thereafter subject only to alteration and decay: it cannot be made again.” (Harris 1989:45)
19In der Berliner Chronik hatte Benjamin die Schichten noch als “Lagerungen” bezeichnet, die “die wahren Werte, die im Erdinnern stecken (…) ausliefern” (GS VI 486). Das “Erdreich” ist hier ganz unvermittelt zu dem Medium geworden, aus dem Wissen über Vergangenheit ausgelesen und im Nachfolgemedium des “archäologischen Berichts” gesammelt werden kann.
20“The strata are carefully observed, distinguished, and labelled as the work proceeds. It is, of course, as the work proceeds that ‚finds‘ are isolated and recorded, and their record is necessarily integral with that of the strata from which they are derived.” (Wheeler 1954: 54)
21Zu Benjamins Theorie des Gedächtnisses vgl. vor allem das zweite Kapitel in Weigel 1997: Von der Topographie zur Schrift – Benjamins Gedächtniskonzept und die Bedeutung der Freudschen Psychoanalyse. Dort wird zwischen zwei Phasen der Benjaminschen Gedächtnistheorie unterschieden: die topographisch-räumlichen Modellierungen vom Ende der 20er Jahre treten dem schrift-topographischen Modell des ausgearbeiteten Passagen-Werks entgegen (Weigel 1997:28). Interessanterweise wird das Denkbild Ausgraben und Erinnern genau am Übergang dieser beiden Modelle situiert.
22(GW VII 400) Jedenfalls kennzeichnet Benjamin die Allegorie durch eine ganz ähnliche Figur: “Das von der allegorischen Intention Betroffene wird (…) zerschlagen und konserviert zugleich.” (GS V.1, 415)
23Benjamin, der Proust zum Ausgräber par excellence macht, spricht davon, dieser sei “lebenslang darauf ausgewesen (…) Verflossenes, gesättigt mit allen Reminiszenzen, die während seines Verweilens im Unbewußten in seine Poren gedrungen waren, ans Licht zu heben.” (BB 133)