Datenkrieg
Troja zwischen Medien und Archäologie

von Wolfgang Ernst

Inhalt

Archäologie und Historie im Widerstreit der Fakultäten
Zwischen Katalog und Schrift (Ilias und Homer-Philologie)
Datenkargheit und Modellierung
Europa? Die anatolische Perspektive
Zwischen Imagination und Archiv
Interfacing Troja (VR)
Anmerkungen

 

Zunächst ein Wort zum Ort dieser Rede. Die aktuelle Gastprofessorin für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin, Barbara Stafford, hat in ihrem Buch Body Criticism auf die Analogie zwischen archäologischer Grabungspraxis, Medien der Holz- und Kupferstichreproduktion und medizinischer Anatomie hingewiesen: das Graben in physischen Körpern. Insofern ist der Ort unserer Ringvorlesung ideal gewählt. Auch der kürzlich 60 Jahre gewordene aktuelle Ausgräber Trojas, Manfred Korfmann, schrieb einmal: "Das Ausgraben bedarf einer bestimmten Technik und ähnelt darin einer medizinischen Operation." [Vielleicht erinnert ja deshalb auch das Plakat unserer Reihe an Medikamentenverpackungen.] Beide Prozesse verlaufen weitgehend stumm und verlangen vornehmlich optische Konzentration - von daher ist dieser Saal panoptisch, nicht als Hörsaal für Vorträge angelegt.

Manifestes Thema meiner Rede ist erstens das Spannungsfeld zwischen realer und virtueller Archäologie am Beispiel von Troja. Latent aber versuche ich damit zugleich einen Diskussionsbeitrag zum Begriff der Informationskultur. Während wir im Zeichen der sogenannte Informationsgesellschaft unter "Daten" vor allem elektronische, also immaterielle Signale verstehen, lohnt die medienarchäologische Erinnerung daran, daß die längste Zeit einmal Daten an reale Artefakte gebunden waren.

Zweitens: Die im Forschungsprojekt behauptete "Aktualität des Archäologischen" fokussiert sich zur Zeit - von der Ausstellung Die griechische Klassik, Ideal oder Wirklichkeit? im Berliner Martin-Gropius-Bau einmal abgesehen - nirgendwo so heiß wie im "Streit um Troja". Denn während die Klassik-Ausstellung sich gerade um einen dezidierten wissenspolitischen Standpunkt oder die Beantwortung der Frage der Relevanz des Griechisch-Klassischen heute durch das implizite Fragezeichen herumdrückt1 , heißt der verdeckte, hinter Disziplinen wie Archäologie und Historie diskursiv versteckte Einsatz im aktuellen Kampf um Troja genau: die Grenzen des Abendlands, oder emphatischer: eine Definition von Europas kultureller Identität. Hier wird Troja zu dem, was ein OCR-Scanner beim Einlesen des Vorlagentextes für die online-Version von Wolfgang Schullers Beitrag "Der Hügel, wo sie wandeln, liegt im Schatten"2 mißverstanden und damit real aufgedeckt hat: nämlich "Trauma" statt "Troja". So trete "Traumas Bedeutung" durch die Ausgrabungen Manfred Korfmanns immer mehr in den Vordergrund. Traumgebilde?

 

Archäologie und Historie im Widerstreit der Fakultäten

Der Streit um Troia ist, um hier auf einen Titel Immanuel Kants anzuspielen, tatsächlich ein Streit der Fakultäten respektive Disziplinen.

"Die deutsche Altertumswissenschaft hat eine Tradition in überzogenem Skeptizismus" (Latacz). Ist dies ihre Schwäche oder Stärke? Dem gegenüber setze ich antiquarische Archäologie als Widerstand gegen holistische Geschichten, die im Dienste von Ideologien stehen.

An der wichtigen Grenzschwelle zur Geschichte überschneidet sich unser Fach mit dem der Historiker, die mit Schriftquellen arbeiten. Das Interesse an unserer Arbeit wird an dieser Stelle automatisch zum Konflikt innerhalb der Disziplinen der Altphilologen, aber auch der Althistoriker, neuerdings auch der Altanatolisten. Die Problematik, auch in ihrer Schärfe, kennen wir seit Schliemann. Da stoßen "Schulen" oder eher Glaubensrichtungen aufeinander. Und wir mit unserer Arbeit vor Ort sind mitten in den Auseinandersetzungen. <Korfmann Juli 2001>

Die Prähistorische Archäologie hat bekanntlich üblicherweise keine Schriftquellen zur Verfügung. Sie arbeitet deshalb mit den verschiedensten Methoden, um Erkenntnisse zu gewinnen. Sie muß den "Boden zum Sprechen bringen", schreibt Manfred Korfmann <ebd.>. Saxa loquntur? "Erzählen Homer, hethitische Scherben und die Rußschichten auf dem Hügel Hisarlik dieselbe Geschichte?", fragt Urs Willmann. Es ist das prosopopoietische Phantasma der Archäologie (und zugleich der Archivwissenschaft), stumme Daten der Vergangenheit immer wieder zum Sprechen bringen zu wollen. Die mykenische Epoche ist, aus heutiger Sicht, mausetod. Doch in der Tübinger Diskussion wurde mit einer Selbstverständlichkeit über hettitische Herrscher, Ortsnamen, Staatsverträge geredet, also handele es sich um die Geographie der Gegenwart. Korfmann aber zitierte in der Tübinger Podiumsdiskussion auch einen Autor aus den Studia Troica: "Es ist klar, daß Archäologie als Wissenschaft eher schweigt als redet".

Archive der Vergangenheit. Wissenstransfers zwischen Archäologie, Philosophie und Künsten nennt sich das Forschungsprojekt, das den Rahmen dieser Vorlesung abgibt. Dieser Transfer ist im Fall der Troja-Debatte von Unterbrechungen, Störungen, Rauschen auf allen akademischen und medialen Kanälen charakterisiert.

Die alte Geschichte, behauptete der Paläo-Archäologe Hans-Peter Uerpmann kürzlich auf dem Tübinger Troja-Kolloquium, stehe "mit dem Rücken zu Wand". Aus ihrem beschränkten Kanon griechischer und lateinischer Texte werde sie kaum noch Neues herauswringen können. Die Archäologie dagegen sei "im Besitz von Wahrheit ". Alles, was in Texten stehe, sei interessengeleitet. Aber in der Antike habe niemand einen Graben in den Fels gehauen, um spätere Archäologen hinters Licht zu führen.

Dagegen steht die Einsicht: Auch "Archäologie ist immer Interpretation. Damit müssen wir leben" (Korfmann). Daten und Deuten liegen hier eng beieinander - gleichzeitig insistiert Medienarchäologisch auf der dazwischen liegenden Kluft. Es ist dies genau der Sprung von "Datum" zu "Information".

Ein zentraler Aspekt des aktuellen Streites um Troja ist die Frage, wer dessen Daten im Namen von Geschichte prozessieren darf. Der erwähnte Paläoarchäologe Uerpmann fokussiert dementsprechend die Troia-Kontroverse auf den Streit zweier Disziplinen: "Wer darf Geschichte produzieren - die Althistoriker oder die Prähistoriker?" Für Althistoriker (wie Kolb) ist es, im Gegensatz zur Archäologie, in der Tat schwer geworden, etwas vorzulegen, das jenseits der längst bekannten antiken Texte liegt; informationstheoretisch ist dieses Wissen redundant. Es ist nicht Aufgabe der Archäologie, diese längst geschriebenen Geschichten zu bestätigen, sondern ihnen gegenüber unerwartete, unwahrscheinliche Befunde, also: Information zu generieren.

Archäologen "argumentieren nicht unbedingt nur innerhalb der Maßstäbe der Geschichtswissenschaften", schreibt Korfmann. Er begründet dies damit, daß in der Prähistorischen Archäologie "Analogieschlüsse, völkerkundliche Vergleiche, der ‚gesunde Menschenverstand' und nicht zuletzt auch die sogenannten Nachbarwissenschaften fast gleichrangig behilflich" seien. Die Stärke der Prähistoriker liegt darin, sich nolens volens gar nicht erst auf die Fiktionen der geschichtsschreibenden Muse Klio einzulassen: "Was wirklich war, ist uns nicht mehr zugänglich", sagte Peter Jablonka, Koordinator der Grabungen in Troias Unterstadt, an Tag 2 des Tübinger Kolloquiums vom Februar 2002. Schließlich habe jede Disziplin ihre Probleme, die Archäologen mit Fundament-Funden genauso wie Althistoriker mit schriftlichen Quellen.

An der Eberhard-Karls-Universität Tübingen ist das Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters (mit Korfmann) an der Fakultät Kulturwissenschaften verortet; dagegen sein Althistoriker-Kollege Kolb an der Fakultät für Philosophie und Geschichte. Hier handelt es sich also einerseits um einen Streit der Fakultäten (Immanuel Kant). Genau hier liegt aber auch das Troja-Dilemma der sogenannten Kulturwissenschaften: sie können sich als "kleptomanische Wissenschaften" nur weit-, aber nicht hinreichend in die fachdisziplinären Materien einarbeiten - was ihnen dann von dieser Seite auch vorgeworfen wird.

Archäologie ist eher naturwissenschaftlich orientiert (als science), Altphilologie dagegen eher literarisch. Das Medium Hörsaal während der Tübinger Konferenz privilegierte bereits das gesprochene Wort, den Diskurs als Reich der Philologie und Textwissenschaft; alternativ dazu wäre zu fragen: Wie sieht ein Gespräch über Troja in situ, am Ausgrabungsort in Hissarlik aus? Ausgräber befassen sich weniger auf der Textebene denn "vor Ort" mit Zusammenhängen, im Team mit Technikern. Korfmann betonte es in seinem Tübinger Abschlußstatement am 16. Februar 2002: das wissenschaftliche Arbeitsfeld der Prähistoriker kann nicht mit dem Vokabular der Historiker "fixiert" werden. "Wir arbeiten ohnehin ständig an den Dingen" - close reading als Sachkunde, nicht als Philologie.

Kritisiert wurde in Tübingen die Praxis der "Korfmannianer", Fundleere durch Plausibilitätserwägungen kompensieren zu wollen. Frank Kolbs Vorwurf lautete:

Korfmann arbeite bei seinen Rekonstruktionen hauptsächlich mit der Annahme von Gebäuden auf erodierten Hängen, für deren Existenz es keinerlei Anhaltspunkte gebe. Der Archäologe glaube, "sich von der Vorgehensweise der Geschichtswissenschaften dispensieren zu dürfen". Wenn etwas nicht vorhanden sei, dürfe man damit auch nicht argumentieren.3

Vom problematischen "urge to fill the gap" der sogenannten dark ages in Griechenland seit Zusammenbruch der mykenischen Palastkultur und der Emergenz des archaischen Griechenlands schreibt James Whitley 1991; "prehistory is necessarily the province of the archaeologist".4 Zwischen dem archäologisch fachgemäßen Akzent auf Diskontinuität (etwa als Zusammenbruch der palatialen mykenischen Epoche nach 1200 (Ausnahme: Lefkandi auf Euböa) und dem Kontinuitätsdenken der (alt-)historischen Perspektive tut sich eine Kluft auf.5 "Ich glaube, wir leben in zwei Welten", sagte Korfmann am Schluss der Tübinger Debatte. Hier rühren wir an das Dilemma der Interdisziplinarität. Machen wir aus der scheinbaren Schwäche eine Stärke: nicht die unmögliche Komplementarität, sondern der Widerstreit zwischen Archäologie und Historie wäre stark zu machen, und damit die jeweiligen Fachdisziplinen gegen eine schwammig verstandene Kulturwissenschaft.

 

Zwischen Katalog und Schrift (Ilias und Homer-Philologie)

Im Begleitband zur Troia-Ausstellung formuliert Korfmann: "Wir <...> hatten nicht die Ilias vor Augen, als wir 1988 nach einer Pause von 50 Jahren mit den Forschungen auf dem Hügel wiederanfingen" <20>. Doch auch Wilhelm Dörpfeld, der Ausgräber von Leukas auf Ithaka, erklärte 1904 in seiner Kontroverse mit Wilamowitz, "daß ich durch diese Grabungen nicht erst die Identität von Leukas mit dem homerischen Ithaka beweisen will. <...> Ich habe allen Grund, mit den bisherigen Resultaten der Grabungen zufrieden zu sein" <AA (1904), 74>. Archäologische Askese? In Alt-Ithaka (Berlin 1927, 120, 150 u. 154) gesteht er jedoch später ein, Ziel seiner Ausgrabungen in den Ebenen von Nidri war "die Stadt des Odysseus".6 Kommentiert Anthony Snodgrass: "No archaeological find from a prehistoric era can, in principle, demonstrate the identification of an entity such as `the place of Odysseus´" <a.a.O., 20>.

An dieser Stelle befinden wir uns in einem semantischen Raum, der zwischen archäologischem Fund und poetischer Erfindung oszilliert. Literarische Überlieferung verleitet einerseits zu Ausgrabungen wie im Fall Heinrich Schliemanns (Troja, Mykene); oder aber im Moment eines Fundes kommt es zum Kurzschluß mit vertrauten Schriftquellen (oder Mythen).

Der Dramaturg Heiner Goebbels hat diese Situation in eine akustische Dimension übersetzt, in Form seines Hörstücks Schliemanns Radio von 1992. Hier handelt es sich um ein archäolo-musikalisches sampling:

Die Scherben Trojas fügt der Komponist <...> zu einem offenen Szenario zusammen. Er kombiniert Schliemanns Tagebücher und Homers "Ilias", Rock und Gregorianik, Einzelstimmen und Chöre, Operntorsi und griechische Folklore. Die Bruchstücke zu einer großen Tradition, die Schliemann bannte, fügen sich zu einem vielschichtigen, klangreichen Ton-Tempel. <CD-Begleittext>

Obgleich die Akustik in diesem für panoptisches Sehen, nicht Hören konzipierten anatomischen Hörsaal katastrophal ist, möchte ich Schliemanns Tagebuch einspielen:

Als umgekehrt der französische Architekt Charles Texier 1834 bei Boghazköy in Anatolien auf Ruinen stieß, konnte er sie nicht als die Hauptstadt des hethitischen Reiches Hattusa identifizieren, weil diese Kultur dem Okzident lange nicht mehr bewußt war. Erst in Kopplung mit Schriftquellen - nämlich mit hethitischen Keilschrifttexten und deren Entzifferung um 1900 - wurde der Ort als historischer identifizierbar. "Im Gegensatz zu Schliemann hatte er diesen Ort ja auch nicht gesucht"7 - ein als hermeneutischer Zirkel vertrauter Befund, wie er mir aus dem Mund eines vorderasiatischen Archäologen (Nagl) zu Beginn meines Archäologie-Studiums an der Universität Köln (Anfang 80er Jahre) noch im Ohr klingt: Es kann nur gefunden werden, was wir schon kennen. Hier kommt Erfindung, inventio zum Zug, als Vorschleifspur aller Archäologie.

Demgegenüber versprechen die aktuellen Data-Mining-Programme (die ja schon vom Namen her der medienarchäologischen Grabung entspricht) im digitalen Raum sogar solche Informationen zu finden, nach denen nie ein menschliches Auge gesucht hat. Das hier praktizierte Verfahren ist auch der prähistorischen Archäologie vertraut, die eher mit Unordnungen denn durch symbolische Ordnungen (Schrift) stabilisierten Befunden zu tun hat: Cluster-Analyse. Dieses ungerichtete Verfahren sucht (im Unterschied zur Entscheidungsbaum-Analyse) durch iterative Prozesse nach Klassen im mehrdimensionalen Raum, der durch die unterschiedlichen Datenmengen aufgespannt wird. "Dem Data-Miner kann es fast egal sein, was die Zahlenkolonnen bedeuten, die er untersucht. Sein Ziel ist es, Strukturen in den abstrakten mathematischen Räumen zu finden."8 Und es sind hier gerade die Lücken und Auslassungen, welche aus einem scheinbar chaotischen Zustand einen signifikanten machen. "Die Archäologie untersucht beides, sowohl die Patterns und Singularitäten, die sich in solchen Häufungen abzeichnen, als auch das Rauschen, das sie löscht" <Kittler 2002: 19>.

Fiktionen, ihrer Etymologie zufolge, stellen Figuren her. Hier kommt die Differenz zwischen "kalter" archäologischer Feldarbeit und "heißer" historischer Imagination zum Zug (im Sinne von Lévi-Strauss´ Differenzierung gegenüber "heißen", d. h. historisch dokumentierten Kulturen <Snodgrass 1987: 137>): eine Kluft trennt beide Praktiken. Es ist dies zugleich auch die Differenz zwischen dem historischen und dem (übertragen) archäologischen Feld. Die Verführung liegt in der positivistischen Täuschung: "requiring the evidence of excavation to express itself in the language of historical narrative" <Snodgrass 1987: 62>. Es ist Praxis der Historiker, aus fragmentarischen Textbefunden in Archiven plausible Geschichte zu schreiben. Genau hier unterscheidet sich das archäologische Feld (im doppelten Sinne) von den Archiv-Fiktionen der Historiker.9

Es gab und gibt viele, die auch heute noch meinen, daß die Stadt Troia der Ilias nicht mehr als "eine poetische Schöpfung" sei (Kolb 2001). Andere gingen und gehen seit Schliemann davon aus, daß Homers Handlungskulisse historisch ist, daß die Ilias auch als Geschichtsbuch gelesen werden könne. Es war nie unser Ziel, Homer zu verifizieren oder zu falsifizieren. Aber nach mittlerweile 21 Grabungssommern in der Troas kommt man bei der 4000jährigen Troiageschichte an Homer nicht vorbei.10

Keinen Deut weniger wichtig als die archäologischen Befunde ist die altphilologische Re-Lektüre Homers durch Joachim Latacz, Troia und Homer (München / Berlin 2001). Daten und Deuten liegen auch hier eng beieinander. Die Ilias war bereits in mykenischer Zeit ausgebildet, wie sich an linguistischen Befunden und dem "Schiffskatalog" in Homers Schrift ableiten läßt. Die Form der Hexameter und formelhafte Module in der Ilias machen es möglich, die schriftlose Zeit zwischen Linear B und Vokalalphabet zu überbrücken, am Schauplatz regionaler Adelshöfe, die nach dem Zusammenbruch Mykenes (besser: Thebens) den Diskurs weiterpflegen. Insofern sind die Hexameter in der Lage, als homöostatische Träger für kleinste Gedächtniseinheiten, sogenannte "Meme", zu fungieren.

Bildet die Ilias nun den "Kern" und "Grundpfeiler" eines historischen Wissens oder nur "Restsplitter" (Justus Cobet)? Restsplitter aber sind das Los, die Perspektive der Historiker. Nehmen wir den sogenannten "Schiffskatalog" in der Ilias zum Beispiel:

Der Archäologe und wohl auch der Historiker gehen vom Realienbefund aus und setzen die Quellen dazu in Beziehung; wer jedoch nach der Aussageintention des Schiffskatalogs fragt, muß erst einmal den sprachlichen Befund analysieren, um dann die Frage zu stellen, inwieweit die Realien die eine oder andere Interpretation bestätigen, stützen, unwahrscheinlich machen oder widerlegen.11

Im Schiffskatalog liegen "Erzählen und Zählen <...> nicht weit auseinander" <Focke, zitiert nach Visser 1997: 9, Anm. 24>. Zum Scharnier von Archäologie und Historie wird hier einmal mehr die Form der Liste, die Inschrift.

Kommen wir von dort auf das 1995 sensationsmachende Fundstück eines mit luwischen Hieroglyphen beschriebenen Siegelrings in Troja:

Seltsam, daß der einzige Schriftfund ausdrücklich einen "Schreiber" nennt. Die trojanischen Trümmermassen werden erst durch Schrift zum "Sprechen" gebracht. Ist die Differenz Historie / Archäologie durch das Speicher- und Übertragungsmedium Schrift (Tradition) gezogene? Mit diesem Schrift-Fund ist plötzlich eine Schnittstelle zwischen Prä- und Althistorie, zwischen Archäologie und Altphilologie geschaffen, materialiter. Erst die metonymische Adressierung der Vergangenheit ermöglicht den historischen Diskurs; Namen fungieren hier als Adresse des Gedächtnisses. Demgegenüber hat es die Archäologie (des Wissens) mit Daten als Materialitäten zu tun; Oswald Spengler sagt es in Die Frühzeit der Weltgeschichte: "Nur Topfscherben, Geräte und Waffen, keine Einzelnamen und Einzeltaten; <...> alles das ist keine Geschichte, oder beweist nur, daß es hier einmal Geschichte gegeben hat."12 Laut Ernst Jünger (Über den Schmerz, 1934) spürt Archäologie "in den Schichten der Erde Reiche <...> auf, von denen selbst die Namen verloren gegangen sind."

Europas Bruder Kadmos bringt der griechischen Sage nach die Schrift nach Griechenland: Theben. Die Europa-Frage ist damit medienoriginär und buchstäblich mythographisch gekoppelt an die Rolle der Schrift.

Die alte Geschichte klänge wie ein Märchen, wären nicht Siegel, das Realste jener Zeiten, übriggeblieben, um uns zu überzeugen, daß die alten Völker wirklich existiert haben.13 Wird durch den Fund des luwischen Siegelrings die Definition des "Vorgeschichtlichen" verschoben? Damit tritt Troja in den Raum des Geschichtlichen, der klassischerweise erst mit dem Einsetzen von Schrift definiert wird? Und anders, medienarchäologisch gefragt: Wieso gilt nicht schon das Auftauchen von Bildern als Eintritt in die historische Epoche?

 

Datenkargheit und Modellierung

Die Sehnsucht nach dem verlorenen Wissen der Historie wird manifest in undankbaren, Klagen über "die Unvollständigkeit und Dürftigkeit der auf uns gekommenen historischen Kunde von alten Zeiten", wie Niebuhr es 1828 formulierte.14

Aus einem archäologischen sample, also Bruchstück eines partiellen Grabungsfunds eine Gesamtheit metonymisch oder synekdochisch, nicht aber metaphorisch hochzurechnen gehört zu den Methoden der Grabungsarchäologie. Der Tübinger Althistoriker Frank Kolb will daher statt von einer trojanischen "Unterstadt" nur von einer Untersiedlung mit Anbau-Freiflächen reden. Erinnern wir uns: Anstoß zum Streit um Troja war ein Holzmodell in der Troja-Ausstellung 2001/2002. Bekommt das Publikum einen Bezug zu den trojanischen Reststeinen erst, wenn es die Geschichte dazu modelliert erhält? Medien der archäologischen Repräsentation stehen hier im Konflikt: Ausstellung, Katalog, Modell, Virtual Reality.

Die im November 2001 eröffnete Ausstellung "Troia - Traum und Wirklichkeit" in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Bonn) zeigte - im Unterschied zu ihren Vorgängerversionen in Stuttgart und Braunschweig - außer dem Holzmodell mit einer offensichtlich dicht bebauten "Unterstadt" von Troia VI eine Computer-Simulation der gleichen Siedlung mit einer lockeren Bebauung und hüttenartigen Wohnungen, deren Zahl gegenüber dem Holzmodell zudem auf einen Bruchteil geschrumpft war. Die Troja-Archäologie gestand nun ein, daß es sich hier nicht um eine Rekonstruktion, sondern um eine bloße Vorstellung, wie es gewesen sein könnte, mithin um eine Fiktion, handelt. Korfmanns zunächst im Holzmodell illustrierte Behauptung, er habe eine große, ummauerte Unterstadt von Troia VI entdeckt, hat nämlich eine nur dürftige Basis im archäologischen Befund. Die außerhalb der Burgmauer gefundenen wenigen Mauerreste aus der Troia VI-Zeit lassen sich nicht zwangsläufig zu Hausgrundrissen zusammenfügen; dies spricht vielmehr für eine lockere Bebauung in gartenartigem Gelände. Von daher die damalige Kritik:

Rekonstruktion bedeutet Wiederaufbau von Bekanntem, Korfmann präsentiert Fiktion von Unbekanntem. Die Öffentlichkeit führt er in die Irre, indem er seine kaum als Hypothesen zu bezeichnenden Spekulationen wie gesicherte Ergebnisse präsentiert.15

Gezeichnet war diese Stellungnahme im Sommer 2001 von einer kritischen Phalanx der Altertumswissenschaftler.

Datenkargheit ist zwangsläufig die Bedingung für eine Tugend der Archäologie: Leere (frei nach Gotthold Ephraim Lessings Traktat Laokoon von 1766 Bedingung für Imagination) nicht vorschnell durch Hypothesen füllen. Historische Imagination steht für das Modell der Fülle und der Füllung; Archäologie dagegen für die Einsicht in fehlende Daten - die "Verwaltung des Mangels" (Annette Bitsch).

Anders gesagt: Sehen wir bei einer Scherbe nicht gleich die ganze Tasse; damit kommen wir zur archäologischen Geste schlechthin:

Dem Archäologen reicht meist eine Scherbe; die geschichtsinteressierte Öffentlichkeit aber verlangt eine ganze Tasse. Mit dieser Askese als methodisch bewußter Untertreibung hat Archäologie eine über ihr Fach hinausreichende paradigmatische Bedeutung: In der sogenannten Informationsgesellschaft den kritischen Blick auf die tatsächlichen Datengrundlagen zu (medien-)kultivieren.

Wissenschaftliche Askese wird am Beispiel Troja zum kritischen Widerstand: "Troja" ist durch Homer derart ikonisiert, daß die Daten jenseits des Geschichtsbilds kaum noch Chancen haben. Reichen die Reste aus, um eine Hypothese zu bilden? Post-strukturale Wissensästhetik sieht in Signifikantenmengen nicht gleich die Spur von etwas Ganzem, sondern das originäre Fragment im Sinne von Paul de Mans Interpretation von Walter Benjamins Essay Der Übersetzer: "The translation <...> is breaking the fragment - so the vessel keeps breaking, constantly - and never reconstitutes it, there was no vessel in the first place, or we have no knowledge of this vessel, or no awareness, no access to it."16

Einem archäologischen Fundbestand einen Namen zu geben heißt, ihm eine Beschränkung aufzuerlegen, ihn mit einem letztendlichen Signifikat auszustatten.17 Aus diesem Grunde hütet sich Korfmann auch, seine Grabungsstätte auf Gedeih und Verderb an den Namen, das Signifikat Troja zu binden, an eine Zuschreibung im Sinne Homers.

Wir erkennen den Spalt zwischen dem Realen (der Materialität bzw. den Lücken) und dem Symbolischen (der hypothetischen Ergänzung) der Überlieferung, nach Regeln, wie sie aus der Nachrichtentechnik vertraut sind: Es geht um die Streuung der Fragmente und Wahrscheinlichkeit ihrer Folge nach einem mathematischen, nicht historischen Modell. Noch einmal: Es ist eine (wissens)archäologische Tugend, Lücken im Datenbefund auszuhalten. "Wäre denn nur wenigstens, was von Trümmern aus der Zerstörung übrig ist, wirklich sicher!", stöhnte Niebuhr einmal.18 Das erfordert pattern-recognition (und damit einen extrem formalisierten, damit aber auch: formalisierbaren, automatisierbaren approach, different vom semantisch aufgeladenen Lesen mit warmer historischer Imagination.

Die Lücke (also Abwesenheit) darzustellen, (wissens-)archäo-logisch, heißt: Eine vorläufige Herstellung muß "die äußere Bedingung" erfüllen, den Raum der Lücken unausgefüllt zu lassen (Niebuhr). Das mahnt an die Fragmentarität der Überlieferung und verlangt nach dem mutigen Blick auf die Lücken zwischen den Daten. Zurecht werden Stimmen laut, die da fragen, wie sich denn auf diese Art überhaupt noch Geschichte schreiben läßt. In der Tat geht es hier um einen alternativen archäologischen Entwurf dessen, was traditionell Geschichte heißt. Es wäre einen Versuch wert, die lückenhafte Datenbasis der Überlieferung von Vergangenheit nicht hypothetisch durch Erzählung (also Historie) zu ergänzen, sondern buchstäblich mit ihren Lücken zu rechnen, also schlicht Daten zu zählen.

Eine solche Hypothese war das Holzmodell in der Troja-Ausstellung. Der Archäologe Wolf-Dietrich Niemeier hat in seinem Artikel in der FAZ v. 16. März 2002 das Troja VI-Holzmodell mit dem aus unseren Schulbüchern vertrauten Modell des antiken Rom im Museo della Civiltà Romana verglichen. Das ist zwar (im Unterschied zum Troja-Modell) durch ein dichtes Netz (thick description) aus archäologischen, epigraphischen, numismatischen, philologischen und historischen Quellen belegt19, andererseits aber ein Produkt von Archäologie im Dienst einer Ideologie, nämlich des italienischen Faschismus unter Mussolini. Anstatt gerade hier Widerstand zu leisten, nämlich auf die karge Datenlage hinzuweisen, hat sich die italienische Archäologie in dieser Zeit zur Begründung der Idee eines von der Antike bis zum 20. Jahrhundert kontinuierlichen Imperiums mißbrauchen lassen und historische Ursprünge Roms noch dort ent-deckt, wo Verwerfungen herrschten (etwa Etrusker statt Römer).

Daran schließt sich die Frage: Was ist das - archäologische Evidenz? Das Schweigen der Daten? Präferieren wir also argumenta ex silentio? Von fehlenden Daten aus der prähistorischen Ägäis um Troja darf nicht auf ihre Nicht-Vorhandenheit geschlossen werden. Scherben lösen sich bisweilen tatsächlich in Luft auf; wenn Archäologen eine Vase zusammensetzen, fehlen meist Teile. Dagegen steht die Position: Nichts, nichts geht verloren (wie die Archivwissenschaft und die Rückführung von sowjetischen Beutegut aus Moskau nach Berlin zeigt). Wir müssen es nur finden wollen.

Das Troja-Modell in der Ausstellung war für Nicht-Fachkundige Besucher gedacht, ihnen eine Vorstellung zu geben. Dagegen bildet sich Wissenschaft ihre Vorstellung an Büchern. Heinhold-Krahmer fordert, Hypothesen auch in populärwissenschaftlichen Kontexten zu kennzeichnen. In der Tat ist die aktuelle Medienkultur von hybriden Mischungen aus Dokumentation und Fiktion, etwa dem Filmgenre der "Dokufiction", gekennzeichnet (etwa zum Untergang der Titanic) - mixed reality, um einen Fachbegriff aus der aktuellen VR-Technologie zu übernehmen. An dieser Stelle erheben Historiker und Archäologen Protest: Es gibt keinen legitimen Zwischenraum zwischen historischer Imagination und Daten - es sei denn, daß man die Fiktion deutlich kennzeichnet.20 Der Pariser Historiker Michel de Certeau machte es schon einmal klar: "History is never sure"; von daher "two series or data", nämlich einerseits unsere "ideas" andererseits die "archives".21 Wie wäre es also, statt mit einer im Modell rekonstruierten Ansicht von Troja VI, mit einem Theorie-Modell?

 

Europa? Die anatolische Perspektive

Die langzeitige europäisch-wissenschaftliche Nichtwahrnehmung orientalischer Quellen beklagte bereits Eduard Meyer 1908. Stefan Hauser schreibt von der "nicht mehr unumstrittenen Hegemonie der griechisch-römischen Welt".22 Immer noch besteht eine gewisse Abwehrhaltung der klassischen Archäologie gegen die Altanatolistik. Die Fundlage in Troja untergräbt, dekonstruiert, durchsetzt ihrerseits das klassische, textbasierte (Homer) Bild von Troja als dem abendländisch-mediterranen Kulturkreis zugehörig. "Die Archäologie schafft Einsprengsel aus anderen Lebenswelten, manchmal unterbricht sie den normalen Verlauf der Dinge <...>. Die Archäologie ist eine Topologie - der anderen Wissen."23 Eine andere arché:

Die Geschichte Troias ist nicht mehr der Beginn der Geschichte Europas. Sie ist jetzt untrennbar mit der des alten Orients verbunden. Damit erhält die troianische Geschichte nicht nur für das Selbstverständnis Europas, sondern auch für das der Türkei eine völlig neue Bedeutung. Solange Troia vor allem als Gründungsmythos der griechischen und der römischen Geschichte tradiert wurde, bedeutete im Orient der Bezug auf Troia immer auch eine Hinwendung zum Westen. Das muss nicht mehr so sein. Troia kann nach den jüngsten Forschungsergebnissen, die die Rolle Griechenlands entscheidend reduziert haben, in eine orientalische Identität integriert werden. Das geht natürlich nur dann, wenn man die Geschichte ebenso als Propagandainstrument nutzt, wie das jahrhundertelang die Europäer mit ihrem Bezug auf Troia - falsch aber wirkungsmächtig - getan haben. Das vor allem macht die Ausstellung zu einem Politikum.

Die "anatolische Perspektive" steht laut Korfmann zunächst im Schatten einer umfassenderen epistemologische Perspektive:

Man kann das Troia-Problem heute nicht mehr nur aus der Sicht des Althistorikers oder des Vorderasiatischen Archäologen betrachten, die Rom und Athen oder die großen Städte Mesopotamiens und Inneranatoliens vor Augen haben. Wir arbeiten hier an der Grenze Europas, wo andere Maßstäbe mit ins Spiel kommen. Auch forschungsgeschichtlich sind wir somit in einem Grenzgebiet.

Kolb jedoch kritisiert den Versuch Korfmanns "der archäologischen Begründung einer europäisch-türkischen Identität". Der Fund einer Handvoll Mauerreste sei dafür nicht hinreichend; hier wird der Begriff der freigelegten "Negativarchitektur", als Bollwerk von Troja VI interpretiert, politisch. Auch Alfred Weber hat den "eurasischen" Komplex im Sinn, wenn er 1943 <!> das ca. 1260 v. Chr. vernichtete Troja als "eine archäische Kolonie" beschreibt, "die hinter kümmerlichen Zwischenstadien, auf dem althistorischen luvischen Platz wiedererstandene Stadt des Priamos".24

So wurden in der Troja-Debatte nicht nur die Differenzen zwischen den Vertretern diverser Disziplinen ausgetragen. Es ging beim Streit um das Verhältnis von dichterischer Fiktion bei Homer zu archäologischen Funden auch um einen kulturhistorischen Disput: Ist Troja Teil des Abendlandes oder gehört es vielmehr zum orientalischen Kulturraum? Will Korfmann Troja vom kollektiven Gedächtnis Europas, das geprägt ist von Homer, ent-koppeln? Seine Ausgrabungen und seine Betonung des Altorientalischen an Troia treffen sich mit dem Selbstverständnis des heutigen türkischen Staates, der sich gerne als Erbe der hethitischen Vergangenheit sieht. Von insgesamt acht Grußworten im Begleitbuch zur Troja-Ausstellung stammen drei von türkischer Seite. Darin heißt es, die Ausstellung zeige, "daß sich die stärksten Wurzeln der europäischen Kultur in Anatolien befinden". Doch genausowenig wie Arminius der erste Deutsche war, genausowenig hat der Hügel von Hisarlik mit der heutigen Türkei zu tun" <Schuller 2001>. Unter dem Titel "Kein Europa ohne Türkei" kommentierte Arno Widmann im Feuilleton der Berliner Zeitung am 17. März 2001 die Ersteröffnung der Ausstellung "Troia - Traum und Wirklichkeit" in Stuttgart:

Mailand und Mantua, Ravenna und Perugia und viele andere Städte ließen Chroniken herstellen, die zeigten, dass ihre Gründerväter aus Troia stammten. Nicht nur die europäische Tradition basierte auf Troia. In der Schedelschen Weltchronik von 1453 heißt es: "Diese zwen, Turcus und Franco, fluhen von Troya und machten zwey königreich. Aber lang darnach." Türken und Franken waren in den Augen dieser Historiker beide Nachfolger von vor den Griechen geflohenen Enkeln des troianischen Königs Priamus.

Die Ausstellung zeigte auffällig keine Exponate aus Griechenland, da die griechischen Museen allesamt eine Zusammenarbeit mit der Troia-Ausstellung ablehnten. Der türkisch-griechische Konflikt wird nicht ausgerechnet anläßlich einer Troia-Ausstellung aufgehoben, sondern vielmehr verschärft, wenn die Ilias Homers, der ja immerhin selbst aus Ionien stammt, im Licht neuer Funde plötzlich vor dem Hintergrund der Geschichte und Literatur Anatoliens anders gelesen wird. Einen ausdrücklichen "anatolischen Standpunkt" nimmt gegenüber dem Iliasdichter auch der Althistoriker Peter Högemann in Erlangen ein:

Die Forschungssituation hat sich seit 1995 durch den Fund eines hieroglyphen-luwischen Bronzesiegels in Troia (vor 1100 v. Chr.) entscheidend verändert. Luwische Staaten haben also nicht nur im Südosten und Süden Anatoliens, sondern wohl auch im Westen ihre Kontinuität über das Jahr 1200 hinweg bewahren können. Damit gerät Westanatolien als unmittelbare Kontaktzone für gelebte anatolische Traditionen in den Blick. Die Herrschaft des Prijamuwa/Priamos erweist sich in der Beschreibung Homers als wirklichkeitsnah. Die Hochschätzung für Priamos, Hektor und Aineias ist nicht zu überhören.
Damit stellt sich von neuem die Frage nach den ersten Hörern der Ilias: Es ist kein panhellenischer Hörerkreis zu postulieren, den gab es noch gar nicht, sondern der frühe ionische Polisadel, der sich in einer stark anatolisch geprägten Welt zu bewähren hatte.

Fragt Sabine Witt in Zürich Manfred Korfmann: "Sind Sie ein vorsätzlicher Mythenzerstörer?" Antwort:

Zu der Zeit (1700-1200 v. Chr.), auf die sich die Kritik bezieht, gab es weder ein Griechenland noch eine Türkei. Im spätbronzezeitlichen Troia lebten Anatolier. Und wenn einen diese Tatsache stört, dann muss er national verbohrt sein. In Anatolien gab es 800 Jahre griechisch-römische Kultur, die sich bis zum Kaukasus erstreckte und danach tausend Jahre Byzantinisches Reich mit seiner christlichen Kultur. Und der Tempel des Augustus mit der Darstellung seiner Lebensleistung steht in Ankara. Oft ist verdrängt worden, dass einige Wurzeln der europäischen Kultur nun einmal in Anatolien liegen und dass es selbstverständlich zur Alten Welt und zum Christentum dazugehörte. Die Ausstellung anatolischer Fundstücke aus Troia machte einfach bewusst, dass dieses angeblich so Ferne zu uns gehört. (Korfmann)

Echo der "hellenischen Fraktion" im Namen Kolbs:

Schließlich sucht Korfmann den Eindruck zu erwecken, erst er habe anatolische Charakterzüge von Troia VI entdeckt, während diese Siedlung vorher für griechisch gehalten worden sei <...>. Wer damit auch noch die Behauptung verbindet, besonders starke Wurzeln der europäischen Kultur lägen in Anatolien und seien nicht zuletzt mit dem Grabungshügel von Hisarlik verknüpft, stellt einen bedenklichen Mangel an historischem Urteilsvermögen unter Beweis.

Haben wir es bei der politarchäologischen Anamnese der anatolischen Eingebundenheit Trojas mit dem zu tun, was Hegel ja schon mit dem "nächtlichen Schacht der Erinnerung" bezeichnet hat? Es ist aber sicher nicht weniger Geschichtsklitterung, Troja jetzt zu einem Monument hochzustilisieren, das von den Archäologen anatolisiert, d. h. ent-europäisiert wird.

Das Politikum Troja beginnt mit der Benennung: Soll ich gut homerisch Troja schreiben, oder besser ebenso homerisch Ilion, d. h. noch mehr hettitisch "Wilusa" zu diesem Ort sagen, mich damit also für die europäische oder die anatolische Perspektive entscheiden? Die Altanatolistik insistiert, daß wir eigentlich in Wilusa graben, und Korfmann antwortet: "Als Archäologe widerspreche ich dem nicht."

Das von Korfmann freigelegte Verteidigungssystem der "Unterstadt" von Troja VI/VIIa weist in der Tat" kaum strukturelle Ähnlichkeiten mit griechisch-mykenischen, dafür aber starke Übereinstimmungen mit anatologischen und nordsyrischen Stadtanlagen des 2. Jahrtausends auf" <Latacz 2001: 55>.

Die Bonner Bundesausstellungshalle kombinierte zeitweilig die Troja- mit einer Hethiter-Ausstellung. Auch wenn diese Verschränkung auf unabhängigen Wegen zustandegekommen sein mag, erwies sie sich letztendlich als taktisch geschickt. Der Besucher lief sprichwörtlich durch den hethitischen Raum nach Troja und war damit schon auf Seiten Korfmanns, der Troja einerseits aus dem mykenisch-griechischen Kreis entkoppelt und recht eindeutig der anatolischen Kultur zuschreibt, dennoch aber mit "Europas Kultur" argumentiert, um mit Troja die Türkei wieder einzubringen. Wenn ich recht sehe, sagt die Ilias jedoch, daß griechisch sprechende Völker einmal mit Troja im Krieg lagen. C'est la guerre - unserer?

Auch der Frankfurter Dokumentarfilmer Lothar Spree sieht hier einen Modellfall:

Ich habe den Verdacht, dass sich in dieser Diskussion ein Kern der Eurozentristik-, der Leitkultur- und der Zivilisationskampfdiskussion verbirgt, bei der wiederum viele Konservative unsere unumstösslichsten Werte ins Wanken geraten sehen können. Dies ist nur ein Verdacht, der aber ausserhalb der Archäologie schaut und dieselbe in ein grösseres Umfeld stellen will. <Email vom 24. Februar 2002>

 

Zwischen Imagination und Archiv

Auch der Prähistoriker ist also nicht frei von historischem Imaginärem. "Wenn dieser Ort nicht zufällig als Schauplatz der Ilias weltberühmt wäre, hätte es überhaupt jemanden interessiert, diesen kleinen Geländebuckel auszugraben?" (Sabine Witt). Korfmanns Antwort: "Mich als Prähistoriker auf jeden Fall." Der Schauplatz Troja ist immer schon in einem double-bind verstrickt, nämlich als zugleich archäologischer und topologischer Ort einer mythischen Schau. "Mythische Schau" steht hier im Widerstreit mit der "kritischen Methode", wie Ernst Kantorowicz, Verfasser des Buchs Kaiser Friedrich der Zweite 1930 erwiderte, daß er es als Bilderstürmerei der Positivisten betrachte, wenn sie ein von Übermalung befreites, sogenanntes wahres Bild vom Kaiser rekonstruieren wollten.25 Es gilt nicht, Bilder von Übermalung zu "befreien", sondern vielmehr ihre Genealogie freizulegen.

Ist Imagination, also Verblendung, der Antrieb für archäologische Einsicht?

Gemäß Sigmund Freuds Analyse von Wilhelm Jensens Archäologen-Novelle Gradiva ist Antike eine Metapher für verschüttete oder verdrängte Kindheit; im Falle Heinrich Schliemanns scheint dies zuzutreffen. Die Psychoanalyse geht davon aus, daß Vergangenheit rekonstruierbar, nachstellbar ist aus anamnetisch verstellten Spuren. Damit korrespondiert die Asymmetrie von Archäologie und Historie im Fall der Deutung Trojas. Allerdings wird auch von der archäologischen Psychoanalyse damit noch ein ursprünglich un-verstelltes Ganzes unterstellt. Demgegenüber könnte ein medienarchäologischer Blick auf Vergangenheit diskrete Datenzustände (cluster analysis) anerkennen und mit ihren sprunghaften Zustandsänderungen buchstäblich (digital) rechnen: diskontinuierliche leaps im archäologischen (Daten-)Feld (Troja I-VIII).

Hier kommt Foucault Begriff der Archäologie des Wissens ins Spiel, die entgegen anderslautender Deutungen nicht metaphorisch und auch nicht philosophisch, sondern strikt mathematisch lesbar ist: Als Studium von Aussagen (énoncés). Aussagen wiederum konfrontieren uns mit einem "field of objects" (Archeology of Knowledge, 1969/1974: 106). Damit eine Zeichenkette zur Aussage werden kann, muß sie referentiell sein, d. h. sich etwa auf eine Domäne materialer Objekte beziehen - das archäologische Feld, d. h. (frei nach Gaston Bachelard) die Vorherrschaft der relationalen über die referentielle Dimension.26

Auf den ersten Blick steht der Titel des Forschungsprojekts Archive der Vergangenheit in bester Tradition, war es doch kein geringerer als Theodor Mommsen, der in seiner Antrittsrede zur Aufnahme als hauptamtliches Mitglied in die Preußische Akademie der Wissenschaften 1858 im Kontext seiner Betreuung des Projekts Corpus Inscriptionum Latinarum die begründende, also buchstäblich archäologische Devise des Historikers ausgab, seine Aufgabe sei es nicht primär, die Lücken unseres Wissens über Vergangenheit mit Imagination oder Suggestion quasi holographisch zu füllen, sondern:

Es ist die Grundlegung der historischen Wissenschaft, daß die Archive der Vergangenheit geordnet werden. <...> Ob jedes Stück, das er aufhebt und aufheben muß, auch wirklich des Aufhebens wert sei, danach fragt der Archivar zunächst nicht. Wenn das weite Feld <...> einmal zu übersehen sein wird, so wird das taube Gestein unschädlich liegen bleiben, der wirklich fruchtbare Boden aber schon von denen, die es angeht, zu Acker- und Saatboden umgebrochen werden.27

Da haben wir sie: die archäologische Kulturtechnik. Doch natürlich hat es Archäologie gerade nicht mit Archiven (also klassifiziertem Gedächtnis) zu tun, sondern mit stochastisch ungeordneten Funden: gerade darin liegt, im Sinne der mathematischen Nachrichtentheorie, ihr hoher Informationswert. Denn nur das Unerwartete ist Information. Erst Grabungstätigkeit der Archäologen generiert Ordnung aus Unordnung. Der Unterschied zwischen Archiv und Archäologie hat einen archivtheoretischen Namen: das Provenienzprinzip, demzufolge die Ordnung des Archivs die Herkunft der Akten wiederspiegelt. Aufgrund des Provenienz-Prinzips ist etwa das Preußische Geheime Staatsarchiv der treue Spiegel von Preußen als Verwaltung; ist die Archiv-Metapher insofern angebracht für Archäologie? In der Auffassung der New Archaeology über archäologische Quellen als "fossilisiertes Verhalten" spiegelt die Gesamtheit archäologischer Überlieferung die Struktur vergangener Gesellschaften tatsächlich maßstabsgetreu wider und ermöglicht somit eine Rekonstruktion ihrer Struktur auch auf archäologischem Wege.28

 

Interfacing Troja (VR)

Nicht in der Welt der Funde, sondern in den Schnittstellen zwischen Datenbanken und unserer Interpretation entsteht die Wirklichkeit Trojas. Schon mit der kinematographischen Repräsentation Trojas beginnt Troja VR. Es gibt ein Video unter dem Titel Troia-Ausgrabungen 1995 von Manfred Korfmann und dem Dokumentarfilmer Martin Emele, erstellt vom Institut für den Wissenschaftlichen Film 1997. Die archäologische Devise lautet hier, wie erwähnt: "Ordnung aus Unordnung", denn was wir sehen, sind Steinmassen, schichtweise in Erdlöchern. Demgegenüber dann die elektronische Einblendung der Zeichnung von Grundrissen Troja I-VII; ebenso die Einblendung, d. h. infographische Überlagerung von tatsächlichen Mauerresten mit ihrer hypothetischen Rekonstruktion. So werden aus Steinhaufen Mauern; tatsächlich ist die sichtbare, durch eingeblendete Vektoren buchstäblich pointierte Evidenz als Beweisführung eher suggestiv.

Auf den ersten Blick scheint ja auch dieser älteste erhaltene Hörsaal Berlins, in dem wir uns gerade befinden, also der Langhans-Bau mit seinen trompe-l´oeil-artigen Kuppelgemälden, schon auf einen Virtual Reality-Dom zu verweisen - ist es aber nicht, denn unser Blick vermag das, was wir sehen, nicht auch gleichzeitig per Tasten- oder Mausbewegung zu manipulieren. Die physische Kuppel ist kein "rechnender Raum" in Sinne unseres Berliner Computerpioniers Konrad Zuse.29 Genau hier setzt ja das aktuelle Forschungsprojekt Archive der Vergangenheit an, indem es neben die schriftlich abgelegten Corpora der Forschungsliteratur (das archäologische Archiv strictu sensu) die nicht-schriftlichen Daten der archäologischen Stratigraphie treten läßt. Ein solches ungeordnetes Daten-Archiv soll durch das Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung beispielhaft in Formen Virtueller Realität überführt werden.

Lange war der vor aller archäologischen Grabungspraxis aus der Geologie stammende Begriff der Stratifikation am Bild des Buchmediums orientiert: "Stratum, strata. When several rocks lie like the leaves of a book, one upon another, each individual forms a stratum."30 Erst wenn sich Stratigraphie von diesem Bild löst, wird sie einem mathematischen Modell (TrojaVR) gegenüber offen. Ein computerwissensbasierter Umgang mit stratigraphischen Daten, in all seinen hypertextuellen Optionen, vermag die vorschnelle Kopplung von archäologischen Schichten mit einem linearen, im Medium der schriftlichen Aufarbeitung suggerierten Modell der Interpretation zu unterlaufen. Das gilt auch für eine Stratigraphie Trojas:

Erstens enthält der Hügel von Troia eine komplizierte Abfolge von Siedlungsresten aus vier Jahrtausenden. Zweitens ist zu deren Beurteilung das Studium einer unübersehbaren und heterogenen Menge an Dokumentation und Publikationen aus einer mehr als hundertjährigen Forschungsgeschichte nötig, die durch die neuen Ausgrabungen in Troia Jahr für Jahr größer wird. So gibt es zwar eine Fülle von Einzelergebnissen zu Detailfragen der Stratigraphie, deren Integration zu einem Gesamtergebnis wird jedoch gerade durch die weiterhin zunehmende Informationsmenge immer schwieriger. Es wird deshalb vorgeschlagen, das Problem durch die Verknüpfung von Katalogen der Befunde und ihrer stratigraphischen Überlagerungen (Datenbank), einer Analyse der Stratigraphie <...> (mit Hilfe spezieller Computerprogramme), und geeigneten Plan- und Profildarstellungen (mit einem CAD-Programm erzeugt und verwaltet) zu lösen. <Peter Jablonka>

Medienarchäologische Askese aber ist der kategorische Imperativ auch von VR-Einsatz in der Präsentation archäologischer Befunde. Das galt auch für das VR-Modell von Troja in der Bonner Ausstellungsvariante. Die archäologische Computervisualistik der Grabungsfunde verzichtete weitgehend auf die sonst für VR-Installationen übliche Verlockung, sie mit antiken Heldenfiguren zu animieren.31

Erinnern wir uns:

Der Forscherstreit um Troia wurde "vor allem von der Visualisierung der publizierten Befunde provoziert", sagt Hanns-Ulrich Mette, Leiter des Pädagogischen Dienstes der Kunsthalle. Der Zwist war bei einer früheren Station der Ausstellung in Stuttgart hochgekocht, wo es statt der Computer- Animation nur ein Holzmodell gegeben hatte. Es enthielt Würfelchen, die eine Unterstadt symbolisierten, deren Existenz in der Bronzezeit nicht gesichert ist. Mette ist überzeugt, dass der Streit um das Modell wohl "nicht so aufgebauscht worden wäre, wären die Hypothesen wie in der hiesigen Computersimulation als solche klar erkennbar gewesen". <ebd.>

Denn hier gibt es die Option, gerade die Datenkargheit zu visualisieren. In Bonn sah der Betrachter zunächst eine digitale Rekonstruktion der Häuser, die sich streng an die Grabungsbefunden hält. Erst danach (und als Alternative zum Holzmodell) wurde ihm die Unterstadt als hypothetische Rekonstruktion gezeigt, "deren Aussehen auf schwächeren Daten beruht" <ders.>. Neu für den digitalen Raum im Unterschied zu materiellen Modellen ist vor allem die Option zur Navigation in der Zeitdimension. Damit wird hyper-archäologisch ein schon erwähnter Projektaspekt von Archive der Vergangenheit eingeholt: die Stratigraphie, das Schichten-Modell. Im Raum wie in der Zeit konnte sich der User auf dem virtuellen Grabungshügel frei bewegen; wahlweise im spätbronzezeitlichen Troia VI, der Stadt Homers, oder etwa in der griechisch-römischen Epoche von Troia VIII. Das Programm, das er steuert, greift auf alle Ausgrabungsdaten zu und errechnet die Bilder in Echtzeit.

In der Bonner Troia-Ausstellung wurde den Besuchern also eine digitalarchäologische "Zeitmaschine" vorgestellt (Bernward Althoff), ein virtueller Spaziergang durch die Ruinenstadt.

Der archäologische Schaltkreis schließt sich, wenn VR nicht mehr allein der musealen Präsentation, sondern als analytisches Tool dient - eine Form der Rückkopplung von Mensch und Computer. Sinn macht dies besonders in dem Moment, wo neben die klassische Grabungsarchäologie geophysikalische Messungen im Medium selbst treten, etwa das Cäsiummagnetometer, das keine materiellen, sondern reine elektronische Daten generiert. Und dies als non-invasive Ortung "ohne einen einzigen Spatenstich"32. Hier liegt die andere Zukunft der virtuellen Archäologie: in der Historisierung der klassischen Grabung, analog zur medizinischen Computertomographie. Unter Computerbedingungen läßt sich maschinell affirmieren, was nicht sichtbar ist. Computeralgorithmen vermögen "Sachen zu generieren, die es schlechthin nicht gegeben hat" (Friedrich Kittler) - imaging statt historischer Imagination, die noch im Reich des Imaginären operiert. Zu fragen ist dabei allerdings, welche optischen Formen (Kanten etwa statt Kurven) die spezifischen Algorithmen privilegieren.

Damit kommen wir zurück zur Einleitung, zur von der Ausstellung Griechische Klassik unbeantworteten Frage nach "Idee oder Wirklichkeit?". Denn offensichtlich erleben wir, an der Schwelle zur digitalen Kultur, gerade etwas Analoges zu dem, was den Griechen im 5. Jahrhundert bewußt wurde: nämlich etwas zu (er-)schaffen, was ohne Vorbild ist. Die (Er-)Findung der freistehenden Klassik korrespondiert mit dem Bewußtsein, das sich derzeit denjenigen offenbart, die im digitalen Raum aus reinen Zahlen plastische Körper erschaffen, die sich sogar bewegen. Hier kommt es zu einem Kurzschluß mit jener Mathematik, die auch den Atomisten der griechischen Klassik, ja ansatzweise auch den Präsokratiern vertraut war. Etwas Unvordenkliches hat sich damals vollzogen und vollzieht sich heute, erstmals wieder.

Womit wir in einem ganz anderen Sinne auf die eingangs erwähnte Nähe des Ortes dieser Veranstaltung zur Praxis der Archäologie zurückkommen. Es gibt nämlich nicht nur eine Analogie zwischen Anatomie organischer Körper und dem Akt der Ausgrabung in der Erde, sondern auch eine solche zwischen den aktuellen bildgebenden Verfahren der Computertomographie in der Medizin und der Hochrechnung archäologischer Daten zu VR-Modellen. In beiden Fällen bedürfen wir eines kritischen Blicks, wie er für die Lektüre von Texten längst philologisch erprobt ist, für das Reich der digitalen Daten aber noch kaum entwickelt ist: Auf welcher Datenbasis beruhen solche Bilder? Dennoch möchte ich nicht mit der Medienideologiekritik stehenbleiben, sondern betonen, daß diese bildgebenden Verfahren, wie ihr Name schon sagt, ihre Stärke gerade darin haben, Dinge zu sehen zu geben, die sonst von menschlichen Augen nie gesehen wären.

Novalis hat 1798, vor rund 200 Jahren, in seinem Fragment über Goethe in aller Deutlichkeit formuliert, daß es Antike buchstäblich "giebt": zwischen Daten und produktiver Einbildungskraft oszillierend, also zwischen materiellen Gegebenheiten (archäologischen Objekten) und virtuellen Daten: "Man irrt sehr, wenn man glaubt, daß es Antiken gibt. Erst jetzt fängt die Antike an zu entstehen. Sie wird unter den Augen und der Seele des Künstlers." Diese Künstler heißen heute Informatiker.

Die Reste des Alterthums sind nur die specifischen Reitze zur Bildung der Antike. Nicht mit Händen wird die Antike gemacht. Der Geist bringt sie durch das Auge hervor, und der gehauene Stein ist nur der Körper, der erst durch sie Bedeutung erhält, und zur Erscheinung derselben wird ... Der klassischen Literatur geht es wie der Antike; sie ist uns eigentlich nicht gegeben - sie ist nicht vorhanden - sondern sie soll von uns erst hervorgebracht werden.33

Überraschend wird der Computer dabei selbst buchstäblich zum Medienarchäologen. Steffen Kirchner, der bei der Berliner Firma Art+Com als Leiter eines Großprojektes zur Virtuellen Archäologie auch für "TrojaVR" zuständig ist und in seiner Doppelausbildung als Informatiker und Ägyptologe respektive Sudanarchäologie einen medienarchäologischen Glücksfall in Person darstellt, erklärt, wie die ersten virtuellen Häuser in TrojaVR bis zu zehnmal geändert werden mußten, weil sich die zweidimensionalen Skizzen - das klassische Medium der archäologischen Rekonstruktion - als unplausibel erwiesen; Fensterstürze, Türen, Dachkonstruktionen mußten immer wieder angepaßt werden. Die dreidimensionale Visualisierung diente also nicht nur der Anschauung, sondern gleichzeitig als Prüfstand der Hypothesen.

"Auferstanden am Computer: So könnte, sagt die digitale Fantasie, Troja 1300 v. Chr. ausgesehen haben" <Bildunterschrift SZ>. Ruinen aber sind nichts zu Sehendes, sondern vor allem Daten - wie auch im aktuellen monitoring nicht mehr sur-, sondern dataveillance stattfindet.

Wie wird aus lückenhaften archäologischen Daten Wissen? Durch ihre Verknüpfung mit visueller Assoziation (Wissen / visum)? Ziel von TrojaVR ist es, dieses Visualisierungstool nicht nur zur öffentlichen Darstellung, sondern auch als heuristisch-analytisches Werkzeug der Archäologen vor Ort im Moment der Ausgrabung zu entwickeln, damit sie originär im dreidimensionalen Datenraum denkend ausgraben lernen. Sinn des TrojaVR-Projekts ist also nicht primär die 3-D-Visualisierung; vielmehr das Eintrainieren des dreidimensionalen Denkens von Archäologen.

Es gibt eine originäre Nähe von Archäologie und Datenverarbeitung; die Fachmesse CAA (Computer Application in Archeology) erinnert wiederholt daran. Während die Bonner TrojaVR-Installation zunächst nur als Präsentationssystem diente, sollen künftig alle archäologisch erhobenen Daten integriert werden; Dias, Grabungs- und Schnittpläne sind dann einblendbar. Die Möglichkeit zu permanenten aktuellen updates der Daten unterscheiden die virtuelle Archäologie von der klassischen archäologischen Publikation.

Zwar vermag sich auch TrojaVR nicht vom Beharren auf photorealistischer Ästhetik zu lösen. "The potential photorealism of such a reconstruction may leave a false impression of greater `scientific´ authority than other types of reconstructions."34 Die Präsentation "Virtuelles Troia" aber soll gerade nicht den Eindruck eines realen Einblicks in die antike Welt vermitteln; die photorealistische Option schließt nämlich im symbolmanipulierbaren Rechner im Unterschied zu einmal gedruckten Zeichnungen den "archäologischen", diskreten Blick nicht aus.

Geplant ist, in TrojaVR eine Wahrscheinlichkeitsfunktion, welche Prozent-Werte von 0 bis 100 vergibt, einzubauen.35 Beiläufig verwies der Rektor der Tübinger Universität aus Anlaß des Troja-Kolloquiums darauf, daß für ihn als Statistiker ein zentraler Gedanke sei, daß jede Troja-Hypothese mit einer Wahrscheinlichkeit verknüpft ist, die nicht unter den Tisch fallen dürfe. Diese Wahrscheinlichkeiten können zwar im Lichte neuer Information zwar revidiert werden, aber selten exakt die Werte O oder 1 erreichen - und schon gar nicht die Wahrheit. Nichts ist unmöglich, kaum etwas ist völlig sicher in der Troja-Forschung. Wir haben es immer nur mit Wahrscheinlichkeiten zu tun. Das aber meint den Ersatz von Wahrheit durch Stochastik, kalkulierbar, nahe an den Datenmengen / -lagen der Archäologen und der cluster analysis. "Das Ziel der Archäologie des Wissens ist - ähnlich wie das der Statistik - nicht die Konstruktion einer Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende, sondern die Erschließung und Beschreibung eines Datenraums."36 Insofern ist Michel Foucaults Archäologie des Wissens mit seinem fröhlichen Positivismus-Appell auch an konkrete Archäologen adressiert: daß man "an die Stelle der Suche nach den Totalitäten die Analyse der Seltenheit, an die Stelle des Themas der transzendentalen Begründung die Beschreibung der Verhältnisse der Äußerlichkeit, an die Stelle der Suche nach dem Ursprung die Analyse der Häufungen" stellen möge <AW 182>, gerade zu anarchäologisch.

An die Stelle von Ja und Nein tritt hier die fuzzy (archaeo-)logic und die Visualisierung von Unsicherheit. Wegschaltbar ist in TrojaVR alles, was archäologisch nicht belegt ist; angeboten werden Varianten (etwa die Variante Korfmann, oder die Variante Kolb). Damit verbunden ist mein Plädoyer für eine genuin archäologische, nicht länger dominant historische Imagination.

Wird jedoch die virtuelle Rekonstruktion Trojas ganz nahe betrachtet, löst sie sich in einzelne Datenmoleküle namens Pixel auf: das Wesen der Archäologie ist ein löchriges Mosaik aus diskreten Daten, immer schon medienarchäologisch.

Joachim Sauter, Mediengestalter in der erwähnten Firma Art + Com, hat einen dementsprechenden Zerseher entwickelt: je genauer wir ein digitales Bild anschauen, desto mehr löst es sich auf.

Es gilt also der Ersatz der historischen Imagination durch die archäologische Kalkulation: Zählen statt Erzählen. Aus der Sicht von Medientheoretikern ergibt ein Datenprozeß gar kein Bild, denn es existiert nur als Rechenform. Doch im medienjuristischen Sinne zählt allein das sichtbare Bild auf der Oberfläche, kommentiert Kurt Denzer angesichts der Trickfilm-Sequenzen in der Hollywood-Filmproduktion Jurassic Park.37 Tim Haines hat in seiner BBC-Fernsehproduktion Die Erben der Saurier - Im Reich der Urzeit durch digitale Animation das, was wir sonst nur als Fossilien (etwa aus der Ölschiefergrube Messel bei Darmstadt) und Knochenresten kennen, gar in Bewegung versetzt, den archäologischen Daten also medienarchäologisch Leben eingehaucht.

"Trotz des faszinierend-dokumentarischen Charakters darf nicht vergessen werden, daß hier ein gerüttelt Maß an Fiktion präsentiert wird; unbekannt etwa sind die Laute der Tiere, ihre Färbung oder gar ihr Zusammenleben."38 An dieser Stelle setzt auch der Streit um die Farbe der Schweineborsten in der animierten CD-ROM zu den Ausgrabungen im altanatolischen Catalhüyük an. Auf alten Spuren? Genau hier aber agiert die Differenz des medienarchäologischen Blicks, der gerade nicht nur auf die sichtbare Oberfläche schaut.

Die virtuelle Rekonstruktion eines prähistorischen Raumes in Catalhüyük ist schon Fiktion. Sie unterscheidet sich nicht von dem, was im Medienkunstkontext ausdrücklich als Fiktion (also: Technik strictu sensu) ausgestellt ist, wie jüngst in der Ausstellung der gelernten Prähistorikerin, dann Medienkünstlerin Uta Kollmann, unter dem Titel Auf alten Spuren.39

Kollmann setzt die VR-Welten schon im Moment der wissenschaftlichen Forschung an. Unter der Überschrift "Archäologie in virtuellen Räumen" heißt es im Begleittext zu ihrer Ausstellung:

Vergleichende Wissenschaften der frühesten Geschichte der Menschheit wie Archäologie, Anthropologie, Ur- und Frühgeschichte sind als anerkannte Perfektionierer von Geschichte eigentlich Erschaffer von virtuellen Räumen. Jede These zur Entstehung des Menschen besetzt einen eigenen Raum, alle haben parallel zueinander existent die gleiche Wertigkeit, bis sie vollkommen widerlegt sind. Es geht nicht um Wahrheit sondern um Möglichkeit, geschaffen durch Details (=Fundstücke) und Perfektion (=Logik+Phantasie).

Das virtuelle Troja meint also nicht nur die gleichnamige Computersimulation der antiken Schichten Trojas, sondern auch die historische Imagination (die solchen Simulationen erst Raum gegeben hat). Prähistoriker arbeiten da anders, lautete die Botschaft Korfmanns auf dem Tübinger Symposium. Tatsächlich?

 

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Anmerkungen

1Siehe dazu den Tagungsband: Gab es das griechische Wunder? Griechenland zwischen dem Ende des 6. und der Mitte des 5. Jh. v. Chr., hg. v. Dietrich Papenfuß / Volker Michael Strocka, Mainz (v. Zabern) 2001
2In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. September 2001, Nr. 212, 52
3Alexander Menden, Manfred und Frank, der Kampf geht weiter . Das große Duell Kolb gegen Korfmann beim Tübinger Symposium "Die Bedeutung Trojas in der späten Bronzezeit", in: Süddeutsche Zeitung Nr. 41 v. 18. Februar 2002, 16
4James Whitley, Style and Society in Dark Age Greece. The Changing Face of a Pre-literate Society 1200-700 BC, Cambridge UP 1991, 6 u. 42
5Siehe Karl-Joachim Hölkeskamp / Elke Stein-Hölkeskamp, Die Dark Ages und das archaische Griechenland, in: Hans-Hoachim Gehrke / Helmuth Schneider (Hg.), Geschichte der Antike, Stuttgart u. a. (Metzler) 2000, 17-96 (42)
6Zitiert nach: Anthony M. Snodgrass, An Archaeology of Greece. the present state and future scope of a discipline, Berkeley / Los Angeles / Oxford (University of California Press) 1987, 20 (Anm.)
7<msi> Gilgameschometer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 91 v. 19. April 2002, 45, unter Bezug auf geophysikalische Meßbefunde im altorientalischen Uruk und die Suggestion des Grabmals von Gilgamesch.
8Ralf Grötker, Goldgräber in der Datenmine, in: Die Zeit Nr. 16 v. 11. April 2002, 42
9Zu Archiv-Fiktionen (im Sinne von Ulrich Raulff) siehe W. E., Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin (Merve) 2002
10Manfred Korfmann, Stellungnahme zu den kürzlichen Interviews des Tübinger Althistorikers Prof. F. Kolb mit verschiedenen Zeitungen (Berliner Morgenpost v.17.7.2001, u.a.m.), Troia, den 27. Juli 2001
11Edzard Visser, Homers Katalog der Schiffe, Stuttgart / Leipzig (Teubner) 1997, 42, unter Bezug auf: Moses Finley, Die Welt des Odysseus [engl. *1954], 186
12Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, München (Beck) 1966, Einleitung, xv
13Frei formuliert nach H. Heine, zitiert als einführendes Motto in: Griechisches Münzwerk, hg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Text u. Redaktion: Maria R.-Alföldi et al., Berlin 2001, 3
14"Ergänzung des Inhalts eines wichtigen Fragments von Dio Cassius", in: Rheinisches Museum Jg. II, 588
15http://www.uni-tuebingen.de/dekanat-geschichte/ag/ag_troia1.htm = Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Redaktion Feuilleton, über: Michael Siebler, Kolbs Krieg, vom 26. Juli 2001 <Druck abgelehnt>
16Paul de Man, The Task of the Translator, in: ders., The Resistance to Theory, Manchester (UP) 1986, 91
17Vgl. Roland Barthes, Der Tod des Autors, *1968
18Niebuhr, 1828 "Ergänzung des Inhalts eines wichtigen Fragments von Dio Cassius", in: Rheinisches Museum Jg. II, 588, zitiert nach ??? , 249
19Darauf weist Hartwin Brandt in seinem Leserbrief vom 8. April 2002 ebd. hin.
20Vgl. Markus Völkel, zu Reaktionen auf die Biographie The last brother des Journalisten Joe McGinnis über Senator Edward Kennedy, in seinem Beitrag: Gibt´s gar nicht! Hat er sich selbst ausgedacht!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 82 v. 9. April 2002, 47
21The Possession at Loudun, Chicago / London (U Chicago P) 2000, Einleitung
22Stefan R. Hauser, "Greek in subject and style, but a little distorted" <Zitat John Boardman über ein Siegel aus dem 5. Jh., das Greifenmonster zeigt>: Zum Verhältnis von Orient und Okzident in den Altertumswissenschaften, in: Stefan Altekamp / Matthias René Hofter / Michael Krumme (Hg.), Posthumanistische klassische Archäologie. Historizität und Wissenschaftlichkeit von Interessen und Methoden. Kolloquium Berlin 1999, München (Hirmer) 2001, 83-101 (99)
23Walter Seitter, Archäologie der Zukunft. Rede auf der Autobahn, in: ders., Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen, Wien (Sonderzahl) 1997, 55-58 (56)
24Alfred Weber, Das Tragische und die Geschichte [*Hamburg 1943], hg. v. Richard Bräu, Marburg (Metropolis) 1998, 70
25E. K., "Mythenschau", HZ 1930, 471
26Samuel Weber, Interpretation und Institution, in: Friedrich Kittler / Manfred Schneider / ders. (Hg.), Diskursanalysen 2: Institution Universität, Opladen (Westdt. Verlag) 1990, 152-166 (155)
27Theodor Mommsen, Antrittsrede vom 8. Juli 1858 ini der Preußischen Akademie der Wissenschaften, in: Reden und Aufsätze, Berlin, 2. Aufl. 1905, 35-38 (38)
28Siehe die Einführung zur Tagung Spuren und Botschaften. Interpretationen materieller Kultur am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Eberhard Karls Universität Tübingen, 2. bis 4. Juni 2000 <http://tiss.zdv.uni-tuebingen.de/webroot/af/afjve01_w99_1/einfuehrung.html>
29Konrad Zuse, Rechnender Raum, Braunschweig 1969 (Schriften zur Datenverarbeitung, Bd. 1)
30Charles Lyell, Principles of Geology, Bd. III, London (Murray) 1833 [Reprint Chicago / London (University of Chicago Press) 1991], "Glossary", 81
31Christiane Schulzki-Haddouti, Auferstanden aus Ruinen. Mit dem Computer-Programm, das Troia auf Ausstellungen lebendig macht, ordnen auch Archäologen ihre Funde, in: Süddeutsche Zeitung (WISSENSCHAFT) v. 29. Januar 2002, Bayern Seite V2/13 / Deutschland Seite V2/13 / München Seite V2/13
32Urs Willmann, Auf den Fersen des Gilgamesch, in: Die Zeit Nr. 17 v.18. April 2002, 28f (29)
33Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Hans-Joachim Mähl / Richard Samuel, Darmstadt (Wiss. Buchges.) 1999, Bd. II, 412-414 (413)
34John-Gordon Swogger / Anja-Christina Wolle, Catalhöyük. Reconstructions in the course of time, in: Anita Rieche / Beate Schneider (Hg.), Archäologie virtuell: Projekte, Entwicklungen, Tendenzen seit 1995, Bonn (Habelt) 2002, 81-89 (86)
35Gespräch mit Steffen Kirchner bei art+com, 1. März 2002
36Wolf Kittler, Thermodynamik und Guerilla. Zur Methode von Michel Foucaults Archäologie des Wissens, in: Trajekte <Zentrum für Literaturforschung, Berlin> Nr. 4, April 2002, 16-21 (17)
37Kurt Denzer, Mit den Neuen Medien zum neuen Original oder: Das Original als Medium, in: Rieche / Schneider (Hg.) 2002, 120-125 (123)
38Michael Siebler, Ein kleines Bad in der Arktis gefällig?, in: FAZ Nr. 20 v. 24. Januar 2002, 47
39In der Galerie CAPRI XI, Berlin, April 2002