Die Aktualität des Archäologischen
in Wissenschaft, Kunst und Technik

von Knut Ebeling

Inhalt

Kapitel I.
Kapitel II.
Kapitel III.
Kapitel IV.
Kapitel V.
Anmerkungen

I.

Unter den aus heutiger Sicht prominentesten Einsendern auf die Preisfrage der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften vom 24.1.1788 Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat? findet sich eine Schrift, die 1791 verfasst und zwei Jahre später redigiert wurde1 - einen Stichtag gab es offenbar für derartige Preisausschreiben nicht, man war geduldiger mit den Einsendern, ihre Fragen wogen schwerer. Der Absender, der sich mit der Abfassung derart Zeit gelassen hatte, war kein geringerer als Immanuel Kant. Der überraschte die Juroren in seiner Antwort, indem er den Begriff einer "philosophischen Archäologie" in die Geschichte des Wissens einbrachte - ein Begriff, der 1790 noch exotischer geklungen haben mag, als er es vielleicht heute tut, konnte "Archäologie" zu diesem Zeitpunkt doch nicht viel mehr als die Entdeckung von Pompeji bedeuten, nach wohin Kant bei seiner berühmten Sesshaftigkeit sicher nicht gereist war. Dennoch, auf welche Weise auch immer die Kunde von der Archäologie nach Königsberg gelangt war: Mit diesem Begriff stellte Kant nicht nur seine Juroren, sondern auch die parallelen Geschichten von Philosophie und der beginnenden Archäologie vor ein Problem, das das 20. Jahrhundert nicht nur nicht lösen konnte, sondern bestenfalls erst in aller Schärfe zu stellen wusste. Denn seit Kant - viel länger existiert der Begriff der Archäologie ja noch nicht -, seit Kant werden unter dem Stichwort der Archäologie Zweifel an einer rein narrativ orientierten Geschichte in dieselbe eingetragen. Wer innerhalb oder außerhalb der Philosophie über die Konstruktion der Vergangenheit nachgedacht hat, hat dies oft genug an einem Begriff von Archäologie festgemacht. Spätestens seit Freuds "Archäologie der Seele", Benjamins "Urgeschichte des 19. Jahrhunderts" im Passagen-Werk und natürlich seit Foucaults Archäologie des Wissens von 1969 steht die Kantische Idee einer "philosophischen Archäologie" wieder - oder immer noch - auf der Tagesordnung der Wissensverteilungsinstanzen.
Die Archäologie steht derzeit hoch im Kurs - wenn auch nicht unbedingt bei den Archäologen und in der Archäologie, von denen man dies ohnehin annehmen sollte, so doch in diversen anderen Gebieten des Wissens und Forschens. Auch und gerade in den nicht-archäologischen Bereichen sorgt die Archäologie oder das Archäologische derzeit für Aufsehen. Zunächst natürlich im Bereich der Wissenschaft selbst: Nach Kant und Foucault, auf den Spuren von Freud und Benjamin ist innerhalb der transdisziplinären Kulturwissenschaft in den letzten zehn Jahren ein reger Diskurs über das Archäologische bzw. ein Diskurs des Archäologischen zu verzeichnen, der sich auf den ersten Blick einer Vielzahl von technik- und medienhistorischen Forschungen verdankt.2 Von Archäologien der Subjektivität bis zu Archäologien der Arbeit, von der Archäologie von Schreibtischoberflächen bis hin zur Archäologie des Ostereis reicht das Angebot. Para-archäologische Forschungsprojekte schießen in dieser nachösterlichen Zeit wie Pilze aus dem Boden. Und das Ende dieser Liste ist nicht mit dieser und nicht mit der nächsten Passionszeit der Geisteswissenschaft gekommen. Parallel dazu häufen sich Symposien und Tagungen zu den Themenkomplexen Sammeln, Speichern und Erinnern, auf denen Historiker und Philosophen, Literaturwissenschaftler und Archäologen plötzlich über Archive reden wie früher einmal über Texte.
Denn ganz gleich wie man zu diesen extraterrestrischen Ansiedlungen von Archäologie außerhalb des Planets der Disziplin auch stehen mag; die Archäologie ist - von den meisten Archäologen unbemerkt - außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches zur Leitwissenschaft desjenigen transdisziplinären Diskurses geworden, der sich derzeit anschickt, die Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden. Interessieren soll an den erwähnten Aktivitäten zunächst nur die Tatsache, dass all die Archäologien der Narration und der Navigation oft genug mit einem Begriff der Archäologie spielen, der als modisch-methodische Metapher, als Kampfbegriff gegen eine verkrustete Geisteswissenschaft eingesetzt wird. Denn falls diese para-archäologischen Forschungen etwas gemeinsam haben, dann ist es der Umstand, dass sie als Kritik der geisteswissenschaftlichen Exploration der Vergangenheit auftreten, der sie ein wichtiges Element hinzufügen: die Einbeziehung der technischen und medialen Bedingtheit auch des literarischen, künstlerischen und philosophischen, kurz des geisteswissenschaftlichen Wissens. Die kulturwissenschaftlichen Archäologien gehen von materiellen und medialen Hinterlassenschaften aus, ebenso wie die Archäologie versuchen sie, die Vergangenheit aus ihren materiellen Speichern und Trägern auszulesen und nicht etwa aus der Bewegung des Geistes. Das kann dann ganz konkret so aussehen, dass die geisteswissenschaftlichen Größen als Fussnoten von Technik- und Mediengeschichten auftauchen; dass Kafka beispielsweise als Fussnote der Geschichte des Postsystems auftaucht, die französische Salonmalerei als Anmerkung zu einem neuen Geldüberweisungssystem und der gesamte Impressionismus als Randerscheinung der Geschichte des Radios verschlagwortet wird.
Es ist anzunehmen, dass diese weitreichende methodische Neuorientierung auf eine veränderte Befindlichkeit gegenüber Geschichte reagiert; offenbar hat die Erfahrung, dass die Geschichte sich nach der Öffnung diverser Archive plötzlich ebenso neu darstellt wie etwa nach der Auswertung einer Ausgrabung, den Blick auf die Geschichte entscheidend verändert: Seit einigen Jahren gewinnt die Auffassung Oberhand, dass nicht nur Gegenwart und Zukunft Gegenstand einer komplexen Konstruktion sind. Auch das Wissen um die Vergangenheit erscheint zunehmend als Ergebnis einer komplexen kulturellen und technischen Konstruktion; tatsächlich hat es mehr und mehr den Anschein, als ob unser Bild der Vergangenheit einen Effekt der Überlagerung von schriftlichem und nicht-schriftlichem Wissen darstellt, von historiographischen und technischen Verfahren seiner Aufbereitung und Speicherung.
In diesem Sinne wird in letzter Zeit neben dem allgemeinen Interesse für die Vergangenheit verstärkt ein Augenmerk auf die technischen Institutionen und medialen Agenturen der Vergangenheitsbildung und -überlieferung geworfen. Diese Tatsache ist insofern erstaunlich, als sich das Verständnis der Öffentlichkeit traditionell durch das Gegenteil auszeichnet: durch ein unvermitteltes Bild der Vergangenheit, das direkt auf Geschichte hinaus will, ohne dabei die Techniken und Medien ihrer Konstitution zu berücksichtigen. An der Basis dieser Revision steht aber die Erkenntnis, dass Techniken und Medien nicht die externen Träger des kulturellen Wissens um die Vergangenheit sind, sondern zu deren primären Produzenten zählen. Wenn beispielsweise jede Digitalisierung auf der Tatsache beruht, dass der Träger die Information mitbeeinflussen und vielleicht mitbestimmen kann, dass das Archiv das Archivierte definiert, dann muss jede Information und jedes Wissen aus diesem Archiv - und wer arbeitet heute noch ohne oder außerhalb des Archivs - über dieses Archiv mitinformieren, mitberichten, mitwissen. Während jede dieser Umwälzungen und Umstellungen die Gebundenheit von Wissen und Daten an bestimmte Speicher und Datenträger ebenso deutlich macht wie des archäologischen Fundstücks an den Fundort und die technische Modalität seiner Ausgrabung, scheint umgekehrt jede wissenschaftliche Vorgehensweise obsolet, die ein Wissen nicht an diese Materialitäten zurückbindet. Denn genau dies tun die Wissenschaftler, die sich heute der Archäologie verschreiben: Sie verfahren innerhalb einer vollendeten Materialität, innerhalb derer jeder Schritt, der zu einem Wissen führt, materieller Bestandteil des auf diese Weise konstituierten Wissens wird. Sie fragen, wie eine bestimmte Geschichte entstanden ist und eine andere nicht, welche Speicher der Geschichte dazu gedient haben, diese Geschichte aus ihnen auszulesen und keine andere. Kurz, man fragt, welche Archive mit welcher Geschichte verknüpft sind. Wie haben die Archive die Schreibung der Geschichte beeinflusst und möglicherweise determiniert? Welche Speicher führen zu welchen Formen des Geschichtsverständnisses? Welches Aufschreibesystem zeitigt welche Geschichte und welche Techniken haben welche Kunstgeschichte hervorgebracht? Das sind die Fragen, die im Zuge der Aktualität des Archäologischen gestellt werden.
Man kann sich denken, dass eine derartig radikale methodische Neuorientierung institutionell keineswegs folgenlos blieb. Was man sich vielleicht weniger denken kann, ist der Umstand, dass die Archäologie oder wenigstens der Begriff des Archäologischen an der kulturwissenschaftlichen Umtaufung ganzer Philologien in Technik- und medienhistorische Abteilungen der Wissenschaftsgeschichte keineswegs unbeteiligt gewesen ist.3 Die Archäologie oder das Archäologische waren nicht unschuldig an jenem beispiellosen Exorzismus alles Geistigen aus den Geisteswissenschaften, der seit der Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften4 bereits 1980 zum Slogan wurde. Die Beihilfe an dieser Vertreibung ist also auch in deren vollkommenen Unwissen der Archäologie anzulasten - oder vielmehr den immensen Ausmaßen eines blinden Fleckes, den die technisch-mediale Ignoranz geisteswissenschaftlichen Vorgehens bislang dargestellt hatte. Hätte man aus geisteswissenschaftlicher Sicht die Materialitäten des Wissens nicht derart achtlos behandelt, brauchte man sich über die derzeitige Rache der bis an die Zähne bewaffneten kulturwissenschaftlichen Rechner und Programmierer nicht zu wundern.
Die jüngsten medientechnischen Anleihen stellen jedoch nur das jüngste Glied einer ganzen Reihe von Entlehnungen aus der Archäologie dar: Es gab bereits eine archäologisch imprägnierte Phänomenologie, eine archäologisch imprägnierte Diskursanalyse und natürlich mit Freud, dem passioniertesten Hobbyarchäologen seines Jahrhunderts, eine archäologisch imprägnierte Psychoanalyse. Dieser Aufzählung lässt sich zum einen entnehmen, dass die Archäologie wissenshistorisch stets diejenige Materialität bereitstellte, die dann von den anderen Disziplinen psychoanalytisch oder phänomenologisch, diskursanalytisch oder medienhistorisch5 ausbuchstabiert wurde. Zum anderen lässt sich an der Aufzählung ablesen, dass es nicht die am wenigsten innovativen Anstöße waren, die im 20. Jahrhundert von der Archäologie ausgingen. Wenn es um die Formation neuer geisteswissenschaftlicher Avantgarden ging, hat man sich gern im Fundus der Archäologie bedient: Die Archäologie hat bei entscheidenden wissenshistorischen Schüben des 20. Jahrhunderts ihre Finger mit im Spiel gehabt hat - ob sie es wollte oder nicht. Insofern ist hier auch die Geschichte der Risiken und Nebenwirkungen zu erzählen, zu denen der ohne Konsultation eines Archäologen eingenommene Genuss der Archäologie verführt.
Zu diesen Genüssen zählt für eine nicht unwesentliche Zahl - nicht an Wissenschaftlern, so doch an fröhlichen Konsumenten - zweifellos jene ungleich harmlosere Inflation von Archäologie im Internet oder im Kino, als Werbeblase oder als Comic-Strip. Eine nicht abreißende Produktion von Filmen wie Indiana Jones, Die Mumie, Die Mumie kehrt zurück oder Lara Croft, die sich opulenter archäologischer Settings bedienen, demonstriert, dass die veranschlagte Aktualität der Archäologie keineswegs auf den Bereich der Wissenschaft beschränkt ist. Hinzu kommen Internet-Angebote und Computerspiele wie Siedler oder Age of Empires, in denen die Archäologie in neuem Gewand ihren Auftritt hat. Und damit nicht genug.

 

II.

Die Aktualität des Archäologischen, die allem Anschein nach jene Aktualität des Ästhetischen ersetzt hat, von der man noch Anfang der neunziger Jahre gesprochen hat, jene Aktualität des Archäologischen wäre auf breiter Front nur rudimentär beschrieben, hätten die Künste seit einigen Jahren und Jahrzehnten nicht ihren Beitrag dazu geleistet. Auch in der zeitgenössischen Ästhetik - nicht nur der der Computerspiele - ist also eine gesteigerte Nachfrage nach Archäologie und allem Archäologischen zu vermelden. Die Inflation des archäologischen Vokabulars ist also auch in der Welt der Kunst angekommen - und keineswegs nur in der Kunst der Klassik. In raunenden Katalogtexten wird gern von einer Archäologie des menschlichen Blicks oder einer Archäologie des abendländischen Tafelbildes gesprochen. Und im Rascheln der Pressetexte taucht derzeit der Begriff der Archäologie an Stellen auf, an denen man ihn am allerwenigsten vermutet hätte.
Die archäologische Ästhetik lässt sich jedoch keineswegs auf das Raunen der Rhetorik begrenzen. Tatsächlich ist neben das hinlänglich bekannte Format der archäologischen Großausstellung in jüngster Zeit noch ein anderer, wenn man so will zeitgenössischer archäologischer Ausstellungstyp hinzugetreten: Die Archiv-Ausstellung. Denn auch zeitgenössische Künstler diverser Generationen zeigen ein reges Interesse an allem Archäologischen. Sie präsentieren in ihren Ausstellungen zwar noch nicht, was sie an Fundstücken aus der Prähistorie zu Tage fördern, dafür aber um so mehr, was sie an Orten finden, die für sie scheinbar ebenso unausdenkliche Vorzeiten darstellen: Ausstellungen von Fundstücken aus vergangenen politischen Systemen (wie der DDR) und von untergegangenen Orten (wie der eigenen Kindheit) erfreuen sich seit einigen Jahren wachsender Beliebtheit. Daneben gesellen sich Funde aus der eigenen Vorzeit oder der Zeit der Eltern - die für die zeitgenössische Kunst in weiter Ferne so nah zu sein scheinen wie dem Archäologen seine Antike. Auch die Künstler sehen sich als Archäologen untergegangener Zeiten, die sie nicht mehr verstehen. Und insbesondere als Archäologen ihrer eigenen Zeit, die ebensolche Geheimnisse zu bieten hat wie die allerfernsten Vergangenheiten.
Wie man diese archäologische Betriebsamkeit auch bewerten mag - jedenfalls sind die archäologischen Verfahren der Spurensicherung6 aus der zeitgenössischen Kunstproduktion nicht mehr wegzudenken. Allerortens geht es um das Gedächtnis der Kunst und des Künstlers, um die bloße und möglichst subjektfreie Verzeichnung der reinen Materialität des Objektes, ihre monumentale hardware, kurz: um eine größtmögliche Verfremdung dessen, was einmal Kunstwerk hieß - um eine Anmutung also, die sich möglichst wenig von dem unterscheidet, was die Ausgräber von vergangenen Zeiten zutage gefördert haben. Man erhält in diesen Archiv-Ausstellungen zuweilen den Eindruck, als sei der Künstler Freuds "reisender Forscher", der "in eine wenig bekannte Gegend [gelangt], in welcher ein Trümmerfeld mit Mauerresten, Bruchstücken von Säulen, von Tafeln mit verwischten und unlesbaren Schriftzeichen sein Interesse weckte"7 - ein Zitat übrigens aus Freuds Ätiologie der Hysterie von 1896, hinter der nach der These Richard Armstrongs niemand anders steckt als Freuds archäologischer Mentor Emanuel Löwy und dessen vorderasiatische Expedition 1882 nach Gölbasi/ Trysa.
Zeugen für diese artistischen "Trümmerfelder mit Mauerresten und Bruchstücken von Säulen" - die Freud mit archäologischer Hilfe natürlich eher in den Untiefen der Seele und des Traums aufzufinden glaubte - sind zum einen große Überblicksausstellungen wie etwa Deep Storage. Arsenale der Erinnerung (1997) oder Die Römische Spur. Künstlerische Recherchen zur Aktualität der Antike (1998), beide in Berlin. Ein naheliegendes Beispiel derartiger Archiv-Künste ist sicher auch die Reihe "Bild-Archive" in den Berliner Kunst-Werken (2000-2002).
In Kunst und Wissenschaft ist also gleichermaßen von einem sonderbaren Amalgam aus Archäologie und Gegenwärtigkeit zu berichten, von archäologischen Verfahren, die sich nicht auf die Erforschung der Vergangenheit, sondern im Gegenteil auf die Ausgrabung der unmittelbaren Gegenwart richten. Dieser Befund einer "Archäologie der Gegenwart"8 ist es auch, der die archäologischen Künste des Archivs von jeder klassizistischen Antike-Rezeption unterscheidet. Während die Antike-Rezeption ein humanistisches Ideal aus der Vergangenheit in die Gegenwart beamen wollte, so verkehren diegegenwärtigen Künste des Archivs diese Bewegung in ihr Gegenteil: Sie versuchen, mit dem Instrumentarium zur Entdeckung der Vergangenheit die unmittelbare Gegenwart zu bergen. Es macht die ganze Paradoxie dieses Unterfangens aus, dass der Archäologie offenbar von Künsten und Kulturwissenschaften gleichermaßen die Fähigkeit eingeräumt wird, diejenige Gegenwart zu erkennen, die sie eigentlich per Definition ausschließt.
Gerade in der a-subjektiven und technisch anmutenden Archäologie vermutet man seltsamerweise ein Potential und ein Instrumentarium zur Erkenntnis der unmittelbaren Gegenwart: Man bedient sich heute archäologischer Verfahren, um die subjektiven Schleier von der Gegenwart zu reißen. Die Gegenwart selbst soll so anonym und menschenleer dargestellt werden, als wäre sie gerade von den Ausgräbern kommender Tage entdeckt worden. Dieser Befund einer weitverbreiteten Menschenleere, einer eigenartigen Verlassenheit, eines merkwürdigen Verschwindens alles Menschlichen aus den künstlerischen und wissenschaftlichen Archäologien weist darauf hin, dass der archäologische Diskurs sich möglicherweise als weniger harmlos entpuppt, als es zunächst den Anschein hatte - meint "Archäologie der Gegenwart" in diesem Zusammenhang doch nichts anderes als die Eliminierung dessen, der diese Gegenwart stiftet: die Eliminierung des Menschen. Anders gesagt: Die Archäologie ist der Agent der Ausschaltung des Verzerrungsfaktors namens Mensch aus Kunst und Wissenschaft, sie signalisiert - spätestens seit Foucault - eine Wissenschaft ohne oder vom Verschwinden des Menschen. Während die anderen Wissenschaften in ihrer textvernarrten Betriebsblindheit die Gegenwart nicht in ihrer anonymen und menschenleeren Form erkennen, wird ausgerechnet die Archäologie zum Anwalt einer anderen Erkenntnis und einer neuen Wissenschaft, die einmal Psychoanalyse hieß und heute Mediengeschichte.

 

III.

Man ist natürlich versucht, die archäologische Betriebsamkeit in Künsten und Wissenschaften mit dem naheliegenden Argument abzutun, dass es hier lediglich um metaphorische Belegungen eines Begriffs geht. In der Tat scheint man es mit diversen Vereinnahmungen eines Begriffs zu tun zu haben, der zu einer beliebigen Begriffmünze zu verkommen droht, wie es Wolfgang Ernst9 jüngst von dem Begriff des Archivs befürchtete. Was hat die Tatsache, dass Archäologie zur zentralen kulturwissenschaftlichen Chiffre für den konstruierten Zustand von Geschichtswissen geworden ist, ja in ambivalenter Weise zum kulturwissenschaftlichen Kampfbegriff avancierte, mit dem Geisteswissenschaftler ebenso als textverirrte Narren hingestellt werden wie Philosophen als spekulative Irrgänger weitab von den Bedingungen des Realen - was hat dieser massive Einsatz der Archäologie an allen Fronten des Wissens und Gestaltens mit der Archäologie selbst zu tun? Handelt es sich nicht einfach nur um einen Irrtum, um ein Missverständnis, wie viele Archäologen sicher meinen? Spielen die para-archäologischen Aktivitäten an allen Fronten tatsächlich nur mit der Archäologie, wie es, so der Verdacht, Michel Foucault womöglich tat, als er 1966 zum ersten Mal den Begriff der Archäologie verwendete, um eine neue "Methode der Beschreibung des Denkens"10 zu bezeichnen? Oder zeitigt die archäologische Vorstellungswelt tatsächlich ernsthafte Konsequenzen, wie es uns nicht nur Walter Benjamins "Urgeschichte des 19. Jahrhunderts", sondern die gesamte wissenschaftliche Avantgarde aus neuen Wissenschaften, angefangen von der Psychoanalyse bis hin zu Technik- und Mediengeschichte derzeit demonstriert? Und wenn dem so wäre: Was wäre der sinnfällige Mehrwert, den die Rede von der Archäologie oder dem Archäologischen in den Künsten und Kulturwissenschaften hervorbringt? Welches ist das Wissen, das mit diesem Begriff transportiert wird, mit dieser auratischen Rede vom Archäologischen und der Archäologie - einer Archäologie, die für die Geisteswissenschaftler vergangener Tage noch vor kurzer Zeit so obsolet war, dass unter Kunsthistorikern diverse Archäologen-Witze kursierten. Worauf beruht also jene derzeitige Aura der Archäologie, die uns an den unterschiedlichsten Orten der zeitgenössischen Kultur begegnet?
Tatsächlich verspricht der Rekurs auf die Archäologie oder das Archäologische einen Zugang zum harten Kern der Dinge, die sich da unabweislich im Boden befinden und zu denen der Archäologe einen privilegierten Zugang hat. Wer heute außerhalb der Archäologie von Archäologie spricht, suggeriert, dass er durch den Schleier der Erscheinungen hindurchtritt, um zum Wesen, zum tatsächlichen Kern der Dinge vorzustossen. So evoziert der derzeitige kulturwissenschaftliche Rekurs auf die Archäologie, dass man vorbei an den weichen Interpretationen noch weicherer Subjekte hin zum harten Kern, zur hardware des Wissens kommt, dass man den Schleier des Wissens durchstößt, um auf jenen unabwendbaren Grund des Wissens zu kommen, den bereits Heidegger im "Gestell" der Technik vermutete.11 Während sich die kulturwissenschaftliche Archäologie in der Tradition Foucaults auf diese Weise unverkennbar in eine Frontstellung gegenüber Hermeneutik und Anthropologie gleichermaßen manövriert,12 legt sie - noch über die Überwindung des Subjektes hinaus, das mitsamt seiner Vergangenheit zum Teil des "Gestells" der modernen Technik wird - etwas nahe, was den Geisteswissenschaften der letzten Dekaden mehr und mehr abhanden gekommen zu sein schien: einen festen, subjektunabhängigen Gegenstand, der wie der berühmte Stein dem Spaten beharrlich widersteht.
Jeder Archäologie geht ihr Gegenstand als "Ding an sich" voraus; über dessen subjektive Konstitutionsbedingungen ist sie erhaben; sie ist erst nach ihm und in seiner Folge entstanden. Ohne gefundene Artefakte keine Archäologie und ohne Medien keine Mediengeschichte. Auf diese Weise schalten die archäologisch operierenden Kulturwissenschaften jede Erkenntnistheorie ebenso cool aus wie jene selbstquälerischen Selbstbegründungen des Geistes, die dessen Wissenschaft von Anfang an begleiten. Stattdessen begegnen sie derlei überkommenen Katz und Maus-Spielchen mit derselben leicht mitleidigen Geste, mit der Physiker und Mathematiker immer schon Philosophen und andere Geisteswissenschaftler belächelten. Während in der Denkfigur vom harten Kern des Wissens positivistisches und szientistisches Denken aufeinandertreffen, hat es tatsächlich den Anschein, als ob hier - neben dem Schliemannschen Mythos der Ausgrabung von etwas Großartigem und Unerwarteten - Motive aus dem kalten Krieg zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern wieder auferstehen würden: Härte der Materialitäten gegen die Weichheit der Interpretation, Substanz des Kerns gegen die trügerischen Oberflächen, hardware gegen software, Archiv gegen Erzählung, Archäologie gegen Geschichte, Positivismus gegen Rationalismus, Naturwissenschaft gegen Geisteswissenschaft, ja sogar Philosophie gegen Wissenschaft. Abgesehen davon, dass man den archäologischen Kulturwissenschaften tatsächlich den Status einer wissenschaftlichen Avantgarde zuerkennen kann, den sie selbstbewusst für sich beansprucht, kommt es in der gegenwärtigen Situation nicht darauf an, alte Gräben zu vertiefen und zementierte Positionen gegeneinander auszuspielen. Heute wäre es vielmehr wichtig, im Sinne einer Archäologie dieser Archäologien und aller Archäologie, die Heraufkunft dieses archäologischen Diskurses und dieser archäologischen Methodik zu rekonstruieren. Denn tatsächlich gibt es gute Gründe für die Annahme, dass die Techniken und Medien, die Speicher und Datenträger, die hinter dem kulturell tradierten Wissen durchschimmern und die wir hier der Geläufigkeit halber mit dem Begriff des Archivs abkürzen, nichts anderes sind als derjenige "harte Kern" der Geschichtskonstruktion, den die Archäologie verspricht: Tatsächlich stellt die Archäologie mit ihren Ausgrabungstechniken und Bergungsverfahren ein neues Dispositiv, ein neues Gestell zur Gewinnung eines neuen Wissens um die Vergangenheit bereit.
Das von der Archäologie hervorgebrachte Wissen ist im ontologischen Sinne neu, weil es eines ist, das ohne sie nicht wäre. Man hat es in der Archäologie nicht, wie beispielsweise in der Geschichte, mit der Erforschung von Dokumenten zu tun, die auch ohne sie existieren würden; die Archäologie erforscht Monumente - um auf die berühmte archäologische Unterscheidung Foucaults13 zurückzukommen - die sie auch selbst hervorbringt und die sonst dem Verschwinden anheimfallen würden. Weil sie selbst die Objekte birgt, die sie untersucht, ist die Archäologie, mit Heidegger gesprochen, eine Weise des Entbergens par excellence. Die Archäologie ist eine Entbergungstechnik par excellence zur Entbergung von etwas, das sonst verborgen bliebe. Dieser unscheinbare Befund ist wichtiger als man meinen möchte, denn er bedeutet nichts anderes, als dass man in der Archäologie nicht von der Technik abstrahieren kann. Weil die gesamte Archäologie auf Weisen der Entbergung der Vergangenheit aufsetzt, weil ohne das profane Geschehen der Ausgrabung keine Archäologie wäre, ist jede ihrer Aussagen genau so diskret technikförmig, wie Heidegger dies von jedem modernen Wissen behauptet.
Denn in der Archäologie hat man es mit einer fundamentaleren Verborgenheit zu tun als beispielsweise in der Geschichtswissenschaft. Die Vergangenheit, mit der es die Archäologie zu tun hat ist eine, die nicht nur verschwunden ist, sondern die zumeist auch zerstört ist. Alle Archäologie geht von einer Abwesenheit einer Vergangenheit aus, die zwar abwesend genug sein muss, um überhaupt nach ihr forschen zu können, die aber auf der anderen Seite anwesend und präsent genug sein muss, damit Archäologen noch etwas finden können. Archäologen suchen also eine Vergangenheit, die verschwunden genug sein muss, um überhaupt das Verlangen nach ihrer Archivierung zu wecken und die aber zugleich noch anwesend sein muss, um sie nicht zur Arbeitslosigkeit zu verurteilen. Kurz, die Archäologie ist durch einen abwesenden und nur noch in Spuren hinterlegten Gegenstand definiert, den sie dem völligen Verschwinden entreißt. Und ist ihr Gegenstand glücklicherweise einmal nicht so abwesend und zerstört, wie dies zumeist der Fall ist, dann zerstört die Archäologie diesen spätestens in dem Moment, in dem sie ihn auffindet und ausgräbt. Denn die Ausgrabung eines Gegenstandes bedeutet zugleich seine Vernichtung, seine Bergung bedeutet seine Zerstörung - was Freud in einem seiner luzidesten Momente auch von den psychischen Traumata sagte, die er in den Tiefen der Psyche seiner zumeist weiblichen Patientinnen ausgrub.14
Überträgt man diese zentrale archäologische Einsicht aus der psychoanalytischen Praxis wieder zurück auf die Archäologie, so wird sichtbar, dass sie nicht nur aus dem Grund Entbergung ist, weil sie Gegenstände findet, die sonst auf immer verschwunden wären. Die Archäologie ist vor allem deshalb Entbergung, weil sie den Gegenstand neu hervorbringt, den sie zuvor zerstören musste, weil sie ihn in diesem Zerstören umschafft, neu schafft, anders hervorbringt. In dem Sinne, in dem Heidegger von der modernen Technik sagt, dass die in der Erde "verborgene" Energie "aufgeschlossen, das Erschlossene umgeformt, das Umgeformte gespeichert, das Gespeicherte wieder verteilt und das Verteilte erneut umgeschaltet wird"15, in dieser mehrfachen Transformationsbewegung wird auch die monumentale Vergangenheit aus der Erde entborgen. Die Archäologie hat es also nicht nur mit einem verschwundenen Gegenstand zu tun, mit der Abwesenheit als Gegenstand, sondern sie hat mit einem Gegenstand zu tun, den sie ebenso wie die moderne Technik mit diesem Tun selbst hervorbringt - ein Umstand, der zugleich bedeutet, dass die Vergangenheit kein Gegenstand in einem herkömmlichen Sinne ist, sondern ein Gegenstand, der von ihr selbst hervorgebracht und der Erde entrissen, entborgen wird: Die Archäologie bringt ihr Produkt, die Vergangenheit, also in der Art eines Kohlekraftwerks hervor und nicht wie eine Windmühle - um auf das von Heidegger gewählte Beispiel zurückzukommen. Es macht deutlich, dass die Archäologie vor allem deshalb Entbergung ist, weil sie die mediale und technische Bedingung darstellt, unter der dieser Gegenstand allein erscheinen kann. Denn, wie es in Heideggers Technik-Aufsatz weiter heißt, "erschließen, umformen, speichern, verteilen, umschalten sind Weisen des Entbergens".
Das heißt in diesem Zusammenhang nichts anderes, als dass die Entbergung zunächst einmal eine technische und mediale Angelegenheit ist: Die Archäologie ist in einer fundamental medialen Situation. Im magischen Moment der Bergung der Vergangenheit, der zugleich ihre Zerstörung bedeutet, muss sie diese medial ersetzen. Sie muss die entdeckte Vergangenheit nicht nur "erschließen", sondern auch sie "umformen, speichern, verteilen, umschalten". Es handelt sich hier um einen diskontinuierlichen Prozeß der Übertragung und Transposition, der Steuerung und Befehlsleitung und keinesfalls um eine kontinuierliche Dynamik der Übersetzung. Im gegenwärtigen Streit um kulturwissenschaftliche Entschlüsselungsverfahren - die sich beispielsweise an Freud entzündeten16 - wäre eine solcherart mit Heidegger gestellte Archäologie ein Argument für die medialen Verfahren der Transposition und gegen eine hermeneutische Logik der Übersetzung, die noch Derrida in Freuds Traumdeutung in Aktion gesehen hat.17 Weil die Archäologie die Vergangenheit im Moment ihres Auffindens zerstört, erfindet sie diese als mediale Repräsentation neu. Die Archäologie hat es also nicht nur mit einer verschwundenen Vergangenheit zu tun, sondern genauer gesagt mit deren medialen Platzhaltern und Stellvertretern, mit ihren Aufbereitungen und Simulationen: Sie ist auf die menschenleeren Archive der Vergangenheit angewiesen.
Diese Geschichte der Mediatisierung der Archäologie ist übrigens keine neue; schon lange Zeit bevor die Vergangenheit vom Computer komplett simuliert wurde, war die tückische und kleinteilige Geschichte der Geräte der Ausgrabung zugleich eine Geschichte der Medien und Geräte der Archäologie, die die Vergangenheit gemäß ihren medialen Gesetzen hervorbrachten - von den Minensuchgeräten, den "Förstersonden" des ersten Weltkriegs bis zur Infrarotfotografie des zweiten, von den ersten Ballon-Luftaufnahmen zur Unterstützung einer Grabung von 1908 bis zu den Röntgenfotografien einer Mumie von 1920. Aus diesem medienhistorischen Blickwinkel wäre Schliemann nicht ohne die Sonden der Geologie zu denken, Friedrich Krauss Beschreibung der Tempel von Paestum 1943 nicht ohne Meydenbauersche Meßbildtechnik und die Entzifferung der Tontäfelchen von Pylos nicht ohne Infrarot-Untersuchungen. Der Nebenschauplatz der Gerümpelkammer aus Gerätschaften ist zugleich der Hauptschauplatz einer beispiellosen Geschichte der Entbergung der Vergangenheit und die Techniken der Archäologie bedeuten mit - einem leicht abgewandelten - François Jacob eine "Maschine zur Herstellung von Vergangenheit."18

 

IV.

Wenn es bislang noch nicht gelungen ist zu zeigen, dass die Verwendung des Begriffes Archäologie keineswegs willkürlich geschieht, dass der verwendete Begriff des Archäologischen noch weniger ein metaphorischer ist, so genügt dieser kurze Blick auf die Wissenschafts- und Technikgeschichte des jungen Faches Archäologie, um die Gestellhaftigkeit der Archäologie zu verdeutlichen. Das Gestell der Archäologie aus Sonden und neuerdings auch aus Scannern lässt sich in der Tat wissenschaftshistorisch rekonstruieren: Denn diese Wissenschaftsgeschichte des 18., 19. und mehr noch des 20. Jahrhunderts zeigt zweifelsfrei, dass unter dem Etikett "Archäologie" seit dem 18. Jahrhundert ein Wissen zunehmend technisch zu Tage gefördert und simultan unter dem gleichen Namen historiographisch und philologisch verarbeitet wurde. Daher gibt es starke Gründe für die Annahme, dass das gesamte Zeitverständnis des skizzierten Zeitraums, also des 18., 19. und 20. Jahrhunderts - den wir hier der Schlichtheit halber Moderne nennen - durch die Entdeckung der archäologischen Materialität mitgeprägt wurde: also durch die Erkenntnis, dass sich die Vergangenheit nicht nur erzählen, sondern auch entbergen lässt, dass man nach ihr nicht nur in Texten, sondern auch in der Erde suchen kann. Die Entbergung der Vergangenheit bedeutete also auch immer eine Entbergung der jeweiligen Gegenwart, die etwas über die Vergangenheit erfuhr und deren Zeitverständnis sich daraufhin änderte.
Doch nicht nur die Vergangenheit beginnt im 18. Jahrhundert, einem radikalen Geschehen der technischen Entbergung anheimzufallen. Im selben 18. Jahrhundert fängt man nicht nur an, in der Erde zu graben, sondern auch, dies sei am Rande bemerkt, Körper zu sezieren und eigene tieranatomische Institute für diese andere Grabungsarbeit zu gründen. Die Tiefe des menschlichen und tierischen Körpers wird also gleichzeitig mit der Tiefe der Erde und der Materialität der in ihr geborgenen Vergangenheit entdeckt. Aufgrund dieser keinesfalls selbstverständlichen Materialität der Vergangenheit, aber auch des Menschen, zeichnet sich nicht nur sie, die Archäologie, sondern auch die von ihr geprägte Zeit, die Moderne, durch eine Spannung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft aus, zwischen subjektiven und objektiven Kriterien der Beurteilung ihrer Gegenstände, kurz: durch die Spannung zwischen Positivismus und Geschichtsphilosophie - eine Spannung übrigens, die sich auch auf die Geschichtswissenschaft selbst zurückfalten lässt: Wenn man einer historischen Kapazität wie Roger Chartier19 glauben darf, so befindet sich auch die Geschichte der letzten Jahrzehnte auf der Wanderschaft zwischen textlichen und materiellen Speichern. Auch die Geschichtswissenschaft ist derzeit von einem archäologischen Zweifel befangen. Und so rekurriert auch sie im "Supermarkt des Vergangenen"20 auf die Archäologie, die plötzlich als eine Stimme im postmodernen Konzert der Schreibweisen von Geschichte vernehmbar wird. Denn die Archäologie ist diejenige Disziplin, an deren Geschichte sich diese Spannung nicht nur studieren lässt; sie vollzieht den positivistisch-geschichtsphilosophischen Spreizschritt in jeder ihrer Aussagen. Sie ist die einzige der geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die unter modernen Vorzeichen Text und Technik, Geist und Graben verbindet. Die Archäologie ist - trotz oder gerade wegen der Grabenkämpfe zwischen philologischen, kunsthistorischen und naturwissenschaftlich operierenden Archäologen - in der beneidenswerten Lage, ein Wissen um die Vergangenheit zu den es konstituierenden technischen und medialen Faktoren in Beziehung zu setzen. Das ist der Grund für die Euphorie in archäologischen Dingen: Während Archäologie Kultur zunächst - wie die derzeitige Medien- und Technikgeschichte - aus nicht-schriftlichen Quellen ausliest, diese Quellen der material culture dann aber mit philologischem Werkzeug verarbeitet, gehen in ihr natur- und geisteswissenschaftliche Verfahren in eins. Allein dieser Umstand der fundamentalen Heterogenität der Archäologie mag genügen, um die Faszination der Disziplin zu erklären. Sie scheint der massgebliche Grund für den kuriosen und bereits erwähnten Umstand zu sein, dass die Archäologie außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches zur Leitwissenschaft desjenigen transdisziplinären Diskurses geworden ist, der sich derzeit anschickt, die Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden.
Die transdisziplinäre Kulturwissenschaft ist bei der Archäologie also tatsächlich an der richtigen Adresse, die Akkumulation des Archäologischen geschieht weniger willkürlich und vor allem weniger metaphorisch, als dies auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Es ist die diskrete Technikförmigkeit jeder archäologischen Erkenntnis - die Tatsache, dass man in der Archäologie nicht von den Weisen der Entbergung der Vergangenheit abstrahieren kann -, die die Archäologie heute für Künstler und Kulturwissenschaftler spannend macht. Weil Kultur- und Mediengeschichten ihre Entdeckungen als ebenso unabweisliches Gerüst, als das Heideggersche Gestell der Kultur begreifen wollen, wie die alten Überreste, auf die Archäologen immer wieder stossen, assoziieren sie sich mit Vorliebe mit der Archäologie - was übrigens auch der Grund war, aus dem Freud gern zu seinen archäologischen Modellen griff, die die Existenz des dubiosen Unbewussten als ebenso unbezweifelbar erscheinen ließen wie die Existenz des sagenumwobenen Troja.
Archiv heißt in der Psychoanalyse wie in der Mediengeschichte also nichts anderes als das Verlangen nach einer ebenso handfesten Grundlage des Geschichtswissens, wie es die ausgegrabenen Monumente21 bereitstellten. Das wäre die Errungenschaft - und zugleich der Wunschtraum - des archäologischen Blicks in den Kulturwissenschaften: Dass die Kultur - in Deutschland bekanntlich seit der Aufklärung von der technischen und funktionalen Sphäre der Zivilisation getrennt - wieder Zugang zu ihren technischen Möglichkeitsbedingungen erhalten solle, dass sie nicht mehr ausschließlich im Ghetto der Geistesgeschichte verbleibt, sondern ebenso anschlussfähig wird an Maschinen und Materialitäten, an Techniken und Texturen des Wissens. Vielleicht ist diese Erkenntnis tatsächlich der gemeinsame Nenner all derer, die sich heute Archäologen nennen: Dass man nicht mehr an eine Trennung zwischen instrumenteller und kontemplativer Vernunft glaubt, sondern im Gegenteil an die Kreativität und Kultur derjenigen Techniken und Verfahren, denen man diese Eigenschaften einmal absprechen wollte.22

 

V.

Die Aktualität einer Wissenschaft, die wie keine zweite auf mediale Vermittlungen und Entbergungen angewiesen ist, meint schließlich auch immer eine Aktualität ihrer zeitgenössischen Archive. Denn was für die monumentale Vergangenheit gelten soll, gilt von der Gegenwart erst recht: Weil die Archäologie unmittelbarer als andere Wissenschaften an ihre Archive gekoppelt ist, weil sie erst als Reaktion auf die Existenz einer Materialität der Vergangenheit entstanden ist, die sie denn auch definiert, weil sie die einzige Geisteswissenschaft ist, die - deutlicher noch als Geschichte und Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte - unverzichtbar auf die Aufbereitung und Speicherung, die Ablagerung und Ablegung der Vergangenheit angewiesen ist, war es schließlich auch nur eine Frage der Zeit, wann die logische und institutionelle Verschränkung von Archäologie und Mediengeschichte in Gestalt der Medien-Archäologie auf den Plan treten würde. "Archive und Archäologie stehen (…) im Bund" sagt denn auch der medienarchäologische Kronzeuge Wolfgang Ernst: "Alle Archäologie ist auch Archivologie."23
Anders gesagt: Die Archäologie steht deswegen heute im Rampenlicht der Aufmerksamkeit, weil sie, ihre Not zu einer Tugend machend, die Abwesenheit, das heißt genauer gesagt die Medien und Archive seiner Ersetzung in das Zentrum ihres eigenen Rampenlichtes stellen musste - ein Prozess, der zugleich eine wissenschaftshistorische Herausforderung an die zeitgenössische und vor allem an die deutsche Archäologie darstellt. Denn die diskreten Erzeuger archäologischen Wissens - die Abstellkammern von verstaubten Karten und Zeichenmaschinen, von Karteikästen mit Grabungsfotos und angefüllt mit Tonnen von Abgüssen und sonstigen Simulationen - in ihrer vollen Medialität, das heißt als Medien mit einer eigenen Wissensentfaltung zu erkennen, ist vielleicht eine der größten Herausforderungen an die heutige Archäologie: In den verstaubten Kammern der archäologischen Institute dieser Erde schlummert ein mediales Wissen, das erst noch als solches erkannt werden will. Nach all den Dingen, die man von der Archäologie hat lernen wollen, ist diese Herausforderung vielleicht dasjenige, was die Archäologie von der medienhistorischen Kulturwissenschaft heute lernen kann:24 Vielleicht sollte man also einmal einige der archäologischen Künstler, die derzeit in den Abstellkammern und Archiven der Kunstmuseen der Welt ihr Unwesen treiben, auf ein archäologisches Institut ansetzen, um es aus diesem Schlummer zu wecken.
Doch mit der Tatsache, dass die Archäologie ihre Not zu einer Tugend machte und die Abwesenheit in das Zentrum ihrer Forschung stellte, hat es noch eine andere Bewandnis außer der kulturwissenschaftlichen Herausforderung an die Archäologie. Denn die Arbeit an der Abwesenheit scheint auch der Grund für die Faszination zu sein, die der Archäologie heute von der zeitgenössischen Ästhetik entgegengebracht wird. Schließlich betrifft das unheimliche Phänomen des Verschwindens nicht nur die Vergangenheit, sondern neuerdings auch die Gegenwart - und schließlich verschwindet heute nicht nur dasjenige, was nicht vom Licht der Erkenntnis erreicht wird, sondern das Verschwinden äußert sich als ein Effekt der Produktivkraft des Wissens selbst. In einer Zeit, wo ein gesamtes kulturelles Erbe durch die Verfahren seiner Ablegung und Speicherung in Frage gestellt erscheint, die Speicherung des Humanen selbst zur Frage wird, erscheint schließlich nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart des Menschen als ein technisch-mediales Konstrukt. Während die schmerzvolle Abgeschnittenheit von der zur Vergangenheit für die Archäologie konstitutiv ist, so hat man bei den gegenwärtigen Archäologen des Zeitgenössischen den Eindruck, als sei die Diskontinuität in die unmittelbare Gegenwart hinübergewandert - ein Befund, der aufgrund der Vielzahl der medialen, technischen und gesellschaftlichen Revolutionen, innerhalb derer die jüngste Künstler- und Wissenschaftlergeneration aufgewachsen ist, nicht einfach von der Hand zu weisen ist: Es ist eine Binsenweisheit, dass die medientechnischen Revolutionen, die an uns vorbeirauschen wie immer neue Computer-, Programm- oder Dateiklassen, nicht nur diverse Dinge ermöglichen und erscheinen lassen - in derselben diskontinuierlichen Bewegung, in der sie Dinge erscheinen lassen, bringen sie andere zum Verschwinden. Die Diskontinuität ist also die verstörende Erfahrung, die die Archäologen der Vergangenheit und der Gegenwart verbindet: Möglicherweise befindet sich zwischen Schreibmaschinenschreibern und Computerusern, zwischen Internetsurfern und Bibliotheksbesuchern, kurz zwischen schreibenden und rechnenden Künstlern und Wissenschaftlern ein ebenso unüberbrückbarer Abgrund wie der, der den Archäologen von seinen prähistorischen Vorfahren trennte. Diese Erfahrung der Diskontinuität, die an der Wurzel des vielbeschworenen "archäologischen Blicks" haftet, ist die Erfahrung, die wir heute deutlicher als in anderen Zeiten machen.25
Weil unter anderem die "Archivtechnik (…) kontrolliert, was schon in der Vergangenheit, was es auch war, als Vorwegnahme der Zukunft instituierte und konstituierte", wie Derrida schreibt, aufgrund dieser existenziellen Abgeschnittenheit von jeder Vergangenheit, aufgrund ihres unaufhörlichen Erscheinens und Verschwindens in der Diskontinuität der technischen Revolutionen verwundert es nicht, dass eine Kultur, deren Signum noch unlängst jene Ästhetik des Verschwindens26 war, von der Paul Virilio ebenfalls 1980 gesprochen hat, früher oder später auf die Techniken und Verfahren stoßen musste, die die Archäologie für eine andere Epoche und eine andere Abwesenheit entwickelt hat. Denn Archäologie heißt dasjenige Instrumentarium, mit dem man die Abwesenheit einer vergangenen oder auch einer gegenwärtigen Epoche bearbeiten kann. Anders gesagt: Weil die Gegenwart immer schneller vergangen ist, weil sie technisch und medial immer besser zum Verschwinden gebracht wird, ja weil die Gegenwart nicht aufgehört hat, nicht ebenso wie die entfernteste Vergangenheit zu verschwinden, bedarf es immer dringlicher archäologischer Verfahren, um nicht nur der Vergangenheit Herr zu werden, sondern auch um eine Gegenwart zu entbergen, die in ihren medialen Speichern und Trägern immer schon Vergangenheit ist. Wobei an dieser Stelle womöglich eine medientechnische Grenze der Archäologie und des Archäologischen erreicht ist, einer Archäologie, die wohl eingesetzt werden kann bei einer Kultur, die ihr Wissen speichert und ablegt, von Steintafeln bis zu CD-Roms, aber die womöglich weniger gefragt sein wird in einer Kultur, die vom Modus des Speicherns zu dem der fortwährenden Übertragung gewechselt sein wird.

 

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Anmerkungen

1Immanuel Kant, Gesammelte Schriften. Band XX, Berlin 1942, 341 f.
2Vgl. beispielsweise Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995, 520: "Diskursanalysen dagegen haben auch nach Standards der zweiten industriellen Revolution materialistisch zu sein."
3"Wichtig ist zudem die wissenschaftsgeschichtliche Rückbindung und Reflexion der gegenwärtigen Reformulierungen der Geisteswissenschaften an kulturphilosophische und -wissenschaftliche Traditionen." Hartmut Böhme, Klaus Scherpe, Literatur und Kulturwissenschaft. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek b. Hamburg 1996, 13.
4Friedrich A. Kittler (Hrsg.), Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, Paderborn 1980.
5Vgl. beispielsweise für eine medienhistorische Lektüre von Freuds archäologischer Meisterdeutung Der Wahn und die Träume in Wilhelm Jensens Gradiva: Manfred Schneider/ F. A. Kittler, Das Beste, was du wissen kannst, in: Manfred Schneider/ F. A. Kittler/ S. Weber, Diskursanalysen 2. Institution Universität, Opladen 1990, 129-151.
6Günter Metken, Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung, Berlin 1977, Carlo Ginzburg, Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berlin 1983.
7Sigmund Freud, Gesammelte Werke I, 426.
8"Archäologien der Gegenwart müssen auch Datenspeicherung, -übertragung und -berechnung in technischen Medien zur Kenntnis nehmen." Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München [1987] 1995, 519. Im Nachwort von 1995 bedient sich Kittler erneut einer archäologischen Metaphorik für die Beschreibung der mediengeschichtlichen Forschung, als er davon spricht, es ginge heute darum, "den Raum gegenwärtigen Schreibens auszugraben (…)." (523) Diese Formulierung erinnert - trotz des augenfälligen Gegensatzes zwischen den beiden Autoren - an die Habermasische Charakterisierung der Diskursarchäologie, die Foucault so beschrieben hatte, dass er "eine Diskurspraxis mit ihren Wurzeln ausgräbt (…)." Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Ff/M. 1985, 296.
9Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002, 7.
10Michel Foucault, Dits et Ecrits I. 1954-1969, Paris 1994, 28.
11Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 19f.
12Foucault wollte "den Diskurs aller seiner anthropologischen Bezüge entledigen, und ihn behandeln, als sei er nie von jemand formuliert worden, als sei er nicht unter besonderen Umständen entstanden, als werde er nicht von Vorstellungen (représentations) durchdrungen (…)."Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1973, 284. Unverkennbar führt Kittlers Kritik der Hermeneutik (Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995, 345, 520) diejenige Foucaults fort. Zur philosophischen Diskussion dieser Kritik vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, 293f.; Axel Honneth, Kritik der Macht, Frankfurt/M.1985, 138, 141; sowie Christoph Menke, Zur Kritik der hermeneutischen Utopie. Habermas und Foucault, in: Eva Erdmann (Hrsg), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1990, 101-129.
13Die Archäologie "behandelt den Diskurs nicht als Dokument, als Zeichen für etwas anderes, als Element, das transparent sein müßte, aber dessen lästige Undurchsichtigkeit man oft durchqueren muß, um schließlich (…) die Tiefe des Wesentlichen zu erreichen; sie wendet sich an den Diskurs in seinem ihm eigenen Volumen als Monument." Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1973, 198.
14In seiner Analyse des "Rattenmannes" wird Freud schreiben, "die Verschüttung [der pompejanischen Grabfunde] habe für sie die Erhaltung bedeutet." Sigmund Freud, Gesammelte Werke, VII, 400.
15Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 16.
16Vgl. Sigrid Weigel, Freuds Schriften zu Kunst und Literatur zwischen Rätsellösung, Deutung und Lektüre, in: Mimesis, Bild und Schrift. Ähnlichkeit und Entstellung im Verhältnis der Künste, hrsg. von Birgit Erdle und Sigrid Weigel, Köln/ Weimar/ Wien 1996, 44; Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995, 345.
17Jacques Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1972. Eine Korrektur erfährt die Interpretation Derridas bei Sarah Kofman, Wahn und Fiktion. Über Freuds Abhandlung Der Wahn und die Träume in W. Jensens "Gradiva", in: Die Kindheit der Kunst, München 1993, 241.
18François Jacob, Das Spiel der Möglichkeiten, München 1983.
19Roger Chartier, Zeit der Zweifel, in: Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, hrsg. von Christoph Conrad und Martina Kessel, Stuttgart 1994, 83- 97.
20Christoph Conrad/ Martina Kessel, Geschichte ohne Zentrum, in: Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, hrsg. von Christoph Conrad und Martina Kessel, Stuttgart 1994, 9.
21Vgl. zum Begriff des Monumentes Horst Bredekamp, Einleitung, in: F. Piper, Einleitung in die monumentale Theologie, 1978, 9-15.
22Vgl. Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/M. 1967. Einen Rückblick auf die Kritische Theorie veranstaltet Friedrich Kittler in: Copyright 1944 by Social Studies Association, Inc., in: Sigrid Weigel (Hrsg), Flaschenpost und Postkarte. Korrespondenzen zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus, Köln/ Weimar/ Wien 1995, 185-194.
23Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002, 10.
24Von Wolfgang Ernst ergeht der Vorschlag, sich den modernen mit dem "archäologischen Blick" zu nähern und dort "nicht-diskursive Formen des Umgangs mit den Archiven der Vergangenheit zu erproben." Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002, 30ff.
25"Doch privilegiere ich das Merkmal des E-mail noch aus einem wichtigeren und offensichtlicheren Grunde: Weil die elektronische Post heute mehr noch als das Fax dabei ist, den gesamten öffentlichen und privaten Raum der Menschheit und zunächst die Grenze zwischen dem Privaten, dem (privaten oder öffentlichen) Geheimen und dem Öffentlichen oder Phänomenalen zu verwandeln. Es ist nicht nur eine Technik, im geläufigen Sinne dieses Ausdrucks: in einem unerhörten Rhythmus, gleichsam augenblicklich, muss diese instrumentelle Möglichkeit der Hervorbringung, des Eindrucks, der Bewahrung und der Zerstörung des Archivs zwangsläufig von juristischen und folglich politischen Veränderungen begleitet werden. Und diese affizieren das Recht auf Eigentum, das Recht zu publizieren und zu reproduzieren - und nichts weniger. Laufende Veränderungen, radikale und endlose Turbulenzen, worauf wir heute blicken und an deren Skala wir die klassischen Arbeiten bemessen müssen. (…) Doch dürfen wir darüber nicht die Augen schließen vor der im Gang befindlichen grenzenlosen Umwälzung der Archivtechnik. Vor allem muss es uns daran erinnern, dass die sogenannte Archivtechnik nicht mehr nur allein den Moment der bewahrenden Aufzeichnung, sondern schon die Institution des archivierbaren Ereignisses bestimmt, und dass sie dies jeher getan hat. (…) Diese Archivtechnik hat kontrolliert, was schon in der Vergangenheit was es auch war als Vorwegnahme der Zukunft instituierte und konstituierte." Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, 36 ff.
26Paul Virilio, Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986.